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Dringend benötigt: Freiräume

Gedanken zur Entwicklung und zum Rollenverständnis von Schulsozialarbeit.

Vor 25 Jahren startete er in einer der seltenen, unbefristeten Vollzeitstellen an einer Grund- und Hauptschule in Nienburg: Volker Harmening, Schulsozialarbeiter und erster Fachberater, zeigt anhand seiner Berufsbiographie Entwicklungsschritte, Möglichkeiten und Grenzen in diesem Arbeitsfeld auf.

„Alle Schüler*innen kamen aus dem engen Umfeld der Schule und das hat auch meine Arbeit deutlich geprägt, da es ganz viele Probleme gab. Der Schulleiter ließ uns sehr viel Raum,
unseren Grundlagen zu folgen, wie Sozialarbeit sein sollte“ – vor diesem Hintergrund baute  Harmening seine Arbeit auf: „Ich könnte ein Buch darüber schreiben, was alles möglich ist in Schule. Ein kleines Buch davon habe ich gelebt. Ich habe viel Freude gehabt in meiner Arbeit. Wenn ich davon ein Stück an euch geben könnte, ich würde es wahnsinnig gern tun“, sagte er im Interview.

Rahmenbedingungen

Harmening berichtete, dass im Rahmen einer Supervisionssitzung dieIdee entstand, Fachberatung zu initiieren. Im Jahre 2000 erhielt er erstmals acht Fachberatungsstunden für Schulsozialarbeit beim Land Niedersachsen. Nach einer selbstorganisierten Fortbildung entstand
die Idee, eine Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) zu gründen. Dieses wurde 2001 umgesetzt und Harmening war viele Jahre im Vorstand. 2004 entstanden die Qualitätsstandards für Schulsozialarbeit. Das Ergebnis ist noch heute auf der Homepage der LAG Schulsozialarbeit Niedersachsen einsehbar. Etwa 2016 wurde die Fachberatung auf eine halbe Stelle erweitert. Mit der anderen halben Stelle war er weiterhin an seiner Schule tätig. 2017 erschien der Erlass „Soziale Arbeit in schulischer Verantwortung“. Es kamen etliche Kolleg*innen zum Land dazu, die zuvor viele Jahre auf der Grundlage des Hauptschulprofilierungserlasses mit immer wiederkehrenden befristeten Verträgen bei Kommunen und freien Trägern arbeiteten. „Der neue Erlass war eine wichtige Grundlage, denn bis zu seinem Erscheinen war Schulsozialarbeit abhängig davon, wie sich Schulleitungen verhielten. Nicht selten war es so, dass auch Aufgaben
übernommen werden mussten, die nichts mit Sozialarbeit zu tun hatten.“ Dann kamen vier Dezernenten und zehn Fachberaterinnen undFachberater dazu, „drei in Hannover und einer wurde ich eben davon. Und so habe ich bis zum letzten Arbeitstag im Februar 2022 wirken können“, erzählte er.

Schule als Lebensort

Harmening meint, Möglichkeiten in der Schule seien nicht grenzenlos, aber groß. „Wir können für die Schüler*innen viel tun, indem wir in Netzwerken agieren, Fachkompetenzen in die Schule holen, damit Schule ein großes Ding wird. Schule ist viel mehr als Unterricht. Und das heißt, dass man am Schulleben mitarbeiten kann, dass sich die Kinder in der Schule wohl fühlen. Es gab etliche Jahre bei mir an der Schule, wo das möglich war, dass Schüler*innen sich wirklich Zuhause gefühlt haben, weil sie zum Beispiel selbst Räume mitgestaltet haben, weil sie ganze Feste mit organisiert haben, indem sie Bänke und Tische gebaut haben, an denen sie nachher sitzen und schreiben konnten. Ich habe wunderbare Jahre erlebt, an denen nichts kaputt gegangen ist. Weil es ihre Sache war, und mit dieser Grundlage haben sie auch ganz anders gelernt. Das ist eine Riesenchance von schulischer Sozialarbeit, weil wir diese Rahmenbedingungen haben und flexibler handeln können, als es der Stundenplan hergibt.“

Rollenverständnis

Er berichtete, wie wichtig es sei, sich immer der eigenen Rolle bewusst zu werden, und dass
Schulsozialarbeiter*innen eine andere Rolle in der Schule haben als Lehrkräfte, was auch den Lehrkräften oft verdeutlicht werden musste, besonders da diese Profession oft noch allein an den Schulen ist. „Und es ist natürlich auch sehr abhängig von den Schulleiter*innen, die letztendlich unsere Vorgesetzten sind und die in vielen Dingen den Hut aufhaben – aber in unserer Fachlichkeit dürfen sie uns nicht zu sehr einengen. Eine elementare Grundlage unserer Arbeit ist die Schweigepflicht, der freiwillige Zugang der Schüler*innen, aber auch der Eltern und der Lehrkräfte. Dies ist ein wichtiger Rahmen für Beratungsarbeit, dass die Kinder sich an uns wenden können oder dass sie auch sagen können, mit dir will ich nicht zusammenarbeiten. Auch das muss ich so akzeptieren. Beratung lebt auch davon, dass wir schweigen und gleichzeitig auch transparent arbeiten müssen. Manche Lehrkraft hat sich gewünscht, dass wir eben mal
helfen und alles in Ordnung ist, und dann kommt der Schüler zurück in die Klasse. Es hängt ja nicht nur von diesem einzelnen Schüler ab. Das ist das System, das eine Rolle spielt, und
auf dieses System wirken wir in der Regel ganz wenig. Von daher ist es schon wichtig, dass sie/er sieht: Ich habe eine Not, ich brauche Unterstützung, ich traue der Sozialarbeiterin/dem  Sozialarbeiter zu, dass er oder sie mir helfen kann. Und damit ist dann eine Grundlage gelegt, dass ich mit dem Kind arbeiten kann“, erläuterte Harmening. „Als Berater brauche ich Distanz.
Das heißt nicht, dass ich nicht zugewandt bin.“ Er musste damit leben, nicht alle retten zu können, und dass er zudem Risiken eingehen musste. „Ich habe keinen Rat erteilt, weil sich dadurch nichts ändert. Der andere kann seinen Rat nur selbst finden.“ Es sei wichtig, Distanz zu halten und zieloffen zu handeln. „Sobald ich ein Ziel für den anderen habe, bin ich völlig eingebunden und das geht in der Regel schon schief. Ich muss so zieloffen wie möglich sein. Ich muss aushalten können, dass der vielleicht trotzdem nicht in die Schule geht. Der Schulbesuch darf nicht mein erstes Ziel sein, sonst finde ich keine guten Möglichkeiten mehr, ihn zu unterstützen, auch darin, dass er wieder in die Schule kommt. Die Grenzen sind genau da, wo ich sanktionieren muss: Wenn ich dafür abgestellt werde, dass ich dafür sorge, dass Schüler*innen, die geschwänzt haben, wieder in die Schule kommen, im gleichen Rahmen, wie das Lehrkräfte machen müssen, weil es ihr Job ist, wie es eine Schulleitung machen muss, weil es ihr Job ist. Wenn ich genauso eingebaut bin, habe ich schon ein Stück verloren.“ Beratungskompetenz sei sehr bedeutsam, beteuerte Harmening.

Ausblick

In seinen vergangenen 24 Jahren als Schulsozialarbeiter sei viel passiert: „Es braucht mehr Kolleg*innen. Eigentlich bräuchte jede Schule mindestens zwei Kolleg*innen. Es gibt immer noch etliche Schulen, die gar keine einzige Stelle haben. Es braucht eine gute Supervision und dann braucht es gute Fort- und Weiterbildungen, Zusatzausbildungen und eine Kooperation mit den Hochschulen. Wer gut ausgebildet ist und wer gute Fortbildungen anbietet, ist nicht billig, und da muss das Land noch stärker unterstützen und mehr finanzieren.“
Die Netzwerkarbeit müsse weiter ausgebaut werden. „Da hat sich bereits vieles zum Guten gewendet. Die Netzwerksprecher*innen sind von großer Bedeutung. Fachberater*innen müssen ganz viel Freiraum lassen und den Mut haben, darauf zu bauen, dass die Kolleg*innen gute Ideen haben, wie sie arbeiten und gestalten. Da geht es Hand in Hand und das muss auch so weitergehen, das muss offen bleiben, sie müssen kreativ miteinander arbeiten und das Arbeitsfeld an den Schulen weiterentwickeln und nicht, dass eine Schulleitung immer sagt, jetzt machst du das. Dann können wir keine guten Sozialarbeiter*innen sein.
Wir brauchen viel Freiraum. Das wird den Schulen helfen“, betonte Kollege Harmening und forderte weitere Stellen für das Anerkennungsjahr und „die Weiterentwicklung des Arbeitsfeldes mit den Hochschulen, der Fachberatung, der LAG Schulsozialarbeit und der GEW. Die GEW hat auch die Aufgabe, dass das einigermaßen mit dem Geld stimmt.“ Es müsse vergleichbar sein mit anderen Bachelors, beispielsweise mit Ingenieur*innen und Betriebswirt*innen. Da brauche es viel Engagement, damit die Betroffenen ein gutes Auskommen mit ihrem Einkommen hätten.


Meike Grams
Referat Jugendhilfe und Soziale Arbeit