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Diskussionsbeitrag

Muss ein sozialer Index für Niedersachsen her?

Wie ist es zu schaffen, eine gute Schulbildung für alle zu gewährleisten? Und wo muss damit angefangen werden? Eine gute Antwort ist: „Das Beste für die Schwächsten“. An diesem Leitsatz können sich Schulbeschäftigte und -leitungen in armen Stadt- und Ortsteilen in Niedersachsen gut orientieren. Die Erfahrung lehrt, dass dieser Blickwinkel hilfreich ist.

Es ist beobachtbar, dass die Lernvoraussetzungen aller Schüler*innen unterschiedlich sind. Es ist normal, verschieden zu sein! Die Unterschiede begründen sich individuell, aber auch gesellschaftlich. Je ärmer, desto geringer sind die Lernvoraussetzungen. „Das Beste für die Schwächsten“ heißt dann, eine wertvolle Lernumgebung zu schaffen, die eine Lernentwicklung
aller Schüler*innen ermöglicht. Viele können so ihre Potenziale entwickeln und kommen gesellschaftlich weiter. Nicht die Menschen sind sozial benachteiligt, sondern das (Bildungs-)
System benachteiligt Menschen, die aus prekären oder armen gesellschaftlichen  Lebensverhältnissen kommen. Längst haben viele Studien (siehe Christoph Butterwegge et al.) nachgewiesen, dass Armut in Deutschland für eine steigende Anzahl von Menschen zur bitteren
Realität geworden ist. Besonders betroffen sind Kinder, denn sie sind unverschuldet in diese gesellschaftliche Lage hineingeworfen. Jedes fünfte Kind ist heute armutsgefährdet. Mit engagiertem pädagogischen Wirken wollen Lehrkräfte einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft leisten und bemühen sich um eine möglichst zukunftsfähige, gut ausgestattete Schule, die alle Schüler*innen dort abholt, wo sie stehen. Und die einzige Schulform, die alle vorbehaltlos dort „abholt“, wo sie wohnen, ist die Grundschule.
Dort gehen nämlich alle Kinder einer Wohnumgebung zur Schule – und das ist auch gut so!

Lichtblick

Endlich: Die neue rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen macht sich auf den Weg. Im Koalitionsvertrag (zu finden im Internet u.a. auf der Seite www.gruene-niedersachsen.de).steht auf Seite 65: „Mithilfe eines neu zu entwickelnden sozialdatenbasierten Index wollen wir den
dafür benötigten Umfang grundsätzlich ermitteln und uns auf den Weg machen, Ressourcen gezielt dort einzusetzen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. […] Das wenig aussagekräftige Maß der statistischen Unterrichtsversorgung wollen wir zu einer Erfassung der Schulversorgung weiterentwickeln, in dessen Rahmen nach Pflichtstunden, Zusatzbedarfen
und sonstigen Stunden differenziert und auch die Multiprofessionalität an Schule abgebildet wird.“
Die Umsetzung dieses Perspektivwechsels würde bedeuten, dass die Schulverwaltung die Schulen unterschiedlich ausstattet. Ungleiches wird ungleich behandelt und nicht mit der „Gießkanne“ bedient. Dies möge transparent, demokratisch (Gremien der Schulverwaltung und
der Schule) und unter Beteiligung der Schule geschehen. Bundesländer wie NRW und Hamburg machen gute Erfahrungen damit. Die Hansestadt hat in der letzten Vergleichsstudie (2022) in Bezug auf die schulischen Leistungen im Grundschulbereich relativ gut abgeschnitten. Der „Soziale Index“ steht auf der Tagesordnung der Bildungspolitik.
Die Ankündigung der Weiterentwicklung der Unterrichtsversorgung ist für die Arbeit an der Grundschule von besonderer Bedeutung. Warum? Weil so mit der Umsetzung bei den Kleinsten/Schwächsten begonnen werden kann und muss. Außerdem wäre die Umsetzung an einer Grundschule am einfachsten.

Fokus auf die Grundschule?

Ja, weil die Grundschule chronisch unterfinanziert und den übrigen Schulformen nicht  gleichgestellt ist. So werden im Vergleich etwa 3.000 Euro weniger für ein Grundschulkind
pro Jahr in Deutschland ausgegeben. Grundschulen werden mit Funktionsstellen schlecht ausgestattet. Die Lehrkräfte unterrichten die meisten Stunden mit der schlechtesten Bezahlung. Jedoch: Die Grundschule ist der Kitt unserer Gesellschaft, der alle zusammenhält. Alle Schüler*innen eines Einzugsbereichs nehmen in der Grundschule am gemeinsamen Unterricht teil. Das Prinzip lautet: „Kurze Wege für unsere Kleinsten“.
Doch unterliegen die Einzugsgebiete sozio-ökonomischen Faktoren, die die Kinder nicht zu verantworten haben. Die Schulformen der weiterführenden Schulen agieren anders. Sie halten Bildungsformate vor, die den Leistungen der Schüler*innen und dem Elternwillen – unabhängig vom Einzugsgebiet – entsprechen. Das Prinzip der Leistungsorientierung liegt hier zugrunde. Werden die Ziele nicht erreicht, müssen die Schüler*innen die Schulform wechseln. Grundschule ist eine Schule für alle, aber mit ungleichen Voraussetzungen. Arme Kinder gehen in arme Stadtteilschulen, reiche Kinder gehen in reiche Stadtteilschulen. Nachgewiesen ist aber, dass die schlechteren Startchancen noch nicht durch unser Bildungswesen ausgeglichen werden. Ja, weil an Grundschulen Schüler*innen aller Bildungsniveaus gemeinsam alphabetisiert und unterrichtet werden. Die Kompetenzen der Kerncurricula (KC) sind für alle verbindlich.

Ein Paradox entsteht: gleiches Ziel, unterschiedliche Voraussetzungen! Was aber braucht man, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen? Die Schüler*innen brauchen mehr Zeit zum Lernen. Gerade die, die mit wenig Vorwissen in die Schule kommen. Und Lehrkräfte brauchen mehr Freiheit, um differenzierte Wege gehen zu können. Mehr Projekte, mehr Arbeitsgemeinschaften, mehr Schulleben wagen! Heterogenität ist die Stärke der Grundschule.
Ja, weil die Grundschule ab 2026 zur Ganztagsschule ausgebaut werden soll. An dieser Schulform werden also große Anpassungsprozesse gestartet, was eine Chance zur Verbesserung darstellt. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Ganztagsgrundschule ist heute als „systemrelevant“ erkannt: Grundschulen, die nach einem „Sozialen Index“ ausgestattet werden, sollten gebundene Ganztagsschulen sein, die aber auch flexible Anfangs- und Endzeiten haben. Kinder brauchen Kinder – und ihnen tut eine Ganztagsschule gut. Eltern brauchen eine Ganztagsschule, um arbeiten gehen zu können.

Zehn Leuchtpunkte

Es beginnt bei den Grundschulen, um die Bildungsgerechtigkeit von Anfang an (wieder) herzustellen. Wie wird eine gute Grundschule mit Sozialem Index gemacht?

Erste Antwort: Es ist kein Anfang bei null. Schon heute sind alle wichtigen Tools zur Einführung des „Sozialen Index“ in der Schulverwaltung vorhanden, diese müssen nur neu justiert, synchronisiert und weiterentwickelt werden. Die Erfahrungen mit „Schule PLUS“ und dem kommunalen Programm „Schulen mit besonderen Herausforderungen“ in Hannover sind vorhanden.


Hier einige Vorschläge:

  1. Die echte Lernzeit verbessern und erhöhen. Leitidee: „Nicht mehr vom Gleichen, sondern anders und kindgerechter“. Die Klassenstärke passt zu den individuellen Bedürfnissen der Kinder.Gut wären 20 Schüler*innen in einer Klasse.
  2. Eine Landkarte der Bildungslandschaft gemäß sozialer Kriterien (Index) könnten die kommunalen Schulämter, die Regionalen Landesämter für Schule und Bildung und das Kultusministerium (MK) für Niedersachsen erstellen. Alle bisherigen statistischen Erhebungen werden sinnvoll miteinander verbunden. Hieraus wird der „Soziale Index“ generiert.
  3. Das MK möge entsprechend dem „Sozialen Index“ Lehrkräfte, Fachkräfte für schulische Sozialarbeit, Pädagogische Mitarbeiter*innen, Förderschullehrkräfte oder Geld zuweisen. Die Grundschulen erhalten einen Pool von pädagogischen Assistenzkräften für Inklusion (Einzelfall), Klassen (siehe 7.) und Verwaltung.
  4. Das Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ) könnte Programme zum differenzierten Erreichen der Bildungsstandards entwerfen und den Schulentwicklungsprozess aktiv begleiten. Das NLQ oder die Abteilung „Beratung und Unterstützung" in den Regionalen Landesämtern für Schule und Bildung („B&U“)“ unterstützen personell und kontinuierlich die Grundschulen.
  5. Die Schulen könnten in Kooperationsverbünden kriterienorientiert zusammenarbeiten. Hier können die Erfahrungen der „Kooperationsverbünde der Schulen mit Besonderen Begabungen“, der Sprachbildungszentren, der RZI und anderer genutzt und gestärkt werden. Ziel wäre es, unter Anleitung des NLQ oder des Bereichs B&U systematisch eine gemeinsame pädagogische Praxis zu entwickeln.
  6. Um die Kompetenzen des KC zu erreichen, wären gezielte Absprachen zwischen den Partnern der multiprofessionellen Teams notwendig. Zusammenarbeit braucht Zeit. Diese Zeit wird als Arbeitszeit gewertet.
  7. Der Einsatz von Klassenassistenzen wurde bereits erfolgreich zum Übergang von der KiTa zur Grundschule ansatzweise erprobt. Klassenassistenzen wären gut für die Begleitung und Betreuung einer Klasse während eines Schultages. Damit entlasten sie die Lehrkraft und die Klasse.
  8. 100 Prozent Unterrichtsversorgung der Grundschulen wären zu gewährleisten. Ausfallender Unterricht bedingt durch Fortbildung, Krankheit etc. wird durch Vertretungsunterricht ausgeglichen.
  9. Die Kommunen könnten aufgefordert werden, einen eigenen kommunalen Sozialindex zu erstellen.
  10. Für eine Übergangszeit bis zur flächendeckenden Einführung in Niedersachsen würde eine schrittweise Umsetzung ab 2025/26 ermöglicht. Das RLSB formuliert die Bedarfe und leitet diese an das MK weiter. Veränderungen des Bedarfs werden regelmäßig durch das NLQ erhoben. Der Soziale Index wird stets den neuen Bedarfen angepasst werden. Eine erste Auswertung könnte spätestens vor dem Ende der jetzigen Legislaturperiode im Jahre 2027 erfolgen.

Fazit

Die Einführung eines „Sozialen Index“ ist möglich, um eine gute Schule für alle zu schaffen. Noch fehlt der politische Wille zur Gleichstellung der Grundschule.

 

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