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Diskussionsbeitrag: 50 Jahre Gesamtschule in Niedersachsen

Sozial, innovativ und politisch

1971 wurden die ersten Gesamtschulen in Niedersachsen auf Initiative von Eltern und Lehrkräften gegründet – die GEW war von Anfang an mit dabei. Daher wird in diesem Jahr das 50-jährige Jubiläum einer Schulform gefeiert, die es geschafft hat, das Schulsystem in Frage zu stellen, zu verändern, aber nicht zu überwinden.

Als Gegenentwurf


Die Gesamtschule war ein Gegenentwurf zum veralteten, selektiven und überholten dreigliedrigen Schulsystem, das gesellschaftliche Schichten zugrunde legte und diesen entsprehende Abschlüsse zuwies. Chancengerechtigkeit, soziale Teilhabe, gemeinsames Lernen und das Offenhalten von Abschlüssen sollten allen Kindern und Jugendlichen die bestmögliche Schulausbildung und einen möglichst hohen Schulabschluss unabhängig vom sozialen Hintergrund ermöglichen. Zur Programmatik gehörten deshalb gemeinsames Lernen so lange wie möglich, kein Sitzenbleiben, der Klassenverband als soziales Gefüge, das Abbilden aller Bildungsgänge, Durchlässigkeit und der Verzicht auf Noten – stattdessen Lernentwicklungsberichte, die die individuelle Entwicklung des Kindes im Fokus hatten, und die sogenannten Stammlehrkräfte, die die Schüler*innen so lange wie möglich begleiten sollten. Dazu gehörte es auch, die sozialen Realitäten zu berücksichtigen und Schule als Ganztagsschule zu konzipieren und den Kindern und Jugendlichen ein Mittagessen zu bieten, da die meisten Eltern (vor allem in sozial benachteiligten Familien) in Vollzeit arbeiteten, alleinerziehend waren. Punktum: Die Teilzeitschule entsprach nicht den sozialen Realitäten und wurde den Bedürfnissen von Kindern, Jugendlichen sowie deren Familien nicht gerecht. Schule sollte weitaus mehr sein als eine Lernstätte, sie sollte zum Lebensraum für gemeinsames Lernen und soziales Miteinander werden. Alle Kinder und Jugendlichen sollten hier zusammen und voneinander lernen – leistungsstärkere und leistungsschwächere Kinder und Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit ganz unterschiedlichen sozialen Hintergründen.

Als selbstverständlich?

Das, was heute so selbstverständlich klingen mag, war vor 50 Jahren revolutionär und fand auch nicht nur Zuspruch.
Wer aber gab seine Kinder in eine solche Schule? Eltern, die darauf angewiesen waren, dass ihr Kind betreut war, Eltern, die sich einen besseren Abschluss als von der Grundschule in der Laufbahnempfehlung vorgesehen für ihr Kind erhofften und Überzeugungstäter*innen, die die soziale „Kastenbildung“ und die Hürden für sozialen Aufstieg in Frage stellten, die für soziale Teilhabe, Chancengenrechtigkeit und demokratische Ideale in der Erziehung einstanden.
Wer wollte an so einer Schule arbeiten? Die Überzeugungstäter*innen, welche die soziale „Kastenbildung“ und die Hürden... also: Lehrer*innen, die die Mängel im überholten Schulsystem überwinden wollten. Die zentralen pädagogischen und gesellschaftspolitischen Ideen der Gesamtschule zogen nach und nach immer mehr innovationsorientierte, junge Lehrkräfte an. Doch nicht nur die Ideen zogen Lehrkräfte an, auch die Strukturen: Unterricht und die Vorbereitung als Teamarbeit, Gestaltung von Unterrichtsmaterial, Diskussion von Inhalten, die pädagogisch zeitgemäße Gestaltung von Schule insgesamt.
Was heute unvorstellbar scheint, ist, dass die ersten Integrierten Gesamtschulen gleichsam ohne erlassliche Regelungen starteten. Revolutionär und ein Erfolg der GEW war, dass die Regelstundenzahl auf 24,5 Stunden für alle – unabhängig von der Lehrbefähigung – festgelegt wurde. Und das gilt heute noch! Eine gleiche Bezahlung konnte jedoch leider immer noch nicht durchgesetzt werden. Die Gesamtkonferenzen wurden ausgiebig für schulpolitische und
pädagogische Diskussionen genutzt. Die Gesamtschulen waren politisch zwar nicht gewünscht, aber sie hatten organisatorisch alle Freiheiten. Das wurde genutzt und es wurden die Grundpfeiler gesetzt, die heute noch die Alleinstellungsmerkmale der Gesamtschule sind. Die Gesamtschule wurde zum gefragten Erfolgsmodell. Jedoch liegt ihre Entwicklung immer in der Abhängigkeit von der jeweiligen Landesregierung, bis heute. Über Jahre wurden Gründungs- beziehungsweise sogenannte Errichtungsverbote ausgesprochen. Ab 2008 durften zwar neue Integrative Gesamtschulen entstehen, die Voraussetzungen waren jedoch sehr rigide. Ab 2009 kämpften die Gesamtschulen erfolgreich gegen „G8“, seit 2011 dürfen keine Kooperativen Gesamtschulen mehr gegründet werden, die bestehenden erhalten Bestandsschutz und seit 2015 sind die Gesamtschulen als teilersetzende Schulform für Haupt- und Realschulen im Schulgesetz verankert – dies zur historischen Darstellung, gewissermaßen im Zeitraffer.
 

Gesamtschulen als Stütze
Aktuell existieren in Niedersachsen 108 Integrierte und 36 Kooperative Gesamtschulen mit Bestandsschutz. An vielen Orten ersetzen sie Haupt-, Real- und Oberschulen. Doch wie sehen die Perspektiven für die Gesamtschulen heute aus?
Das Schicksal der Gesamtschule hängt am dreigliedrigen Schulsystem. Wer hätte das damals gedacht? Fakt ist, dass sich die Haupt- und Oberschulen sowie viele Realschulen in Auflösung befinden. Zulauf dagegen erhalten die Gymnasien und die Gesamtschulen. Nicht alle Gymnasien und nicht alle Gesamtschulen. Mit den Neugründungen von Gesamtschulen aus auslaufenden Hauptund Realschulen sowie schlechten Startbedingungen – sowohl in Bezug auf die Raumausstattung als auch die Ressourcen – wurden Integrative Gesamtschulen geschaffen, die zum einen gegen die etablierten, besser ausgestatteten Integrierten Gesamtschulen und zum anderen gegen die Tradition des Standortes ankämpfen und vor allem um leistungsstärkere Schüler*innen werben müssen. Mittlerweile haben sich alle Schulen des dreigliedrigen Schulsystems viele Errungenschaften beziehungsweise Innovationen, die die Gesamtschule etabliert hat, abgeguckt: Ganztag, Wahlpflichtbereiche, Verfügungsstunden, Berufsorientierung, Profilbildungen in der Sek I und II und so weiter. Die Gesamtschulen dagegen werden nach wie vor in ihren Entwicklungsfreiheiten beschnitten. Mehr noch: Sie werden seit einigen Jahren nach und nach zur zweiten Säule neben dem Gymnasium in das gegliederte System gepresst. Die Gesamtschulen sollen alle Schüler*innen aufnehmen, die vom Gymnasium abgeschult werden, sowie die Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischen Förderbedarf, die für sich keinen Platz am Gymnasium finden. Grundsätzlich könnte man sagen, die Gesamtschule ist der richtige Ort, die Gesamtschule hat Erfahrung mit Integration
und Inklusion und ist eine Schule für alle. Wenn aber nicht mehr sämtliche Schüler*innen auf diese Schule gehen, droht sie ihrem Anspruch, alle Bildungsgänge abzubilden, nicht mehr gerecht werden zu können.

Als gleichberechtigte Schulform
Die Gesamtschulen haben in 50 Jahren gezeigt, dass sie in der Lage sind, gesellschaftliche Herausforderungen innovativ zu meistern und auch Hindernisse, manchmal auch Blockaden zu überwinden. Trotzdem ist die Krise, in der das dreigliedrige Schulsystem und damit auch die Gesamtschulen stecken, eine existentielle. Es muss verstanden werden, dass die Gesamtschule ein in sich geschlossenes – wenn auch durchlässiges – System ist. Wenn die Haupt-, Real- und Oberschulen sowie Förderschulen aufgelöst werden, braucht das Gymnasium die Gesamtschule; die Gesamtschule aber nicht das Gymnasium. Wir müssen also einen Weg finden, der der Gesamtschule als gleichberechtigte Schulform, die alle Bildungsgänge abbildet, gerecht wird. Das bedeutet allerdings, dass die Gesamtschule für den Erhalt des Gymnasiums auf gar keinen Fall im Status als teilersetzende Schulform verharren darf. Das wäre ein Schritt
zurück. Die Gesamtschule muss in ihrer Grundidee erhalten bleiben, um ihrem gesellschaftspolitischen und sozialen Anspruch auch weiterhin gerecht werden zu können. Das bedeutet aber auch, dass man sich mit Schulentwicklung, Schullandschaften und der Rolle des Gymnasiums als Überbleibsel des dreigliedrigen Schulsystems auseinandersetzen muss. Sicher sind viele Anhänger*innen der Gymnasien empört, wenn sie das lesen. Es ist aber kein Angriff. Es ist vielmehr der Versuch, allen deutlich zu machen, dass wir eine Strukturkrise haben. Und auch wenn es Gewinner*innen und Verlierer*innen gibt, betrifft die Krise alle bestehenden Schulformen und muss im Sinne der Schüler*innen gelöst werden. Die Gesamtschule als Stütze für ein überholtes Schulsystem zu benutzen, für das sie als Gegenentwurf angetreten ist, wäre nicht frei von Hohn.

Mehr als drei in einem
Nach 50 Jahren Gesamtschule lässt sich sagen: Es funktioniert. Benötigt werden wie für jede andere Schule auch Rahmenbedingungen, die das Gelingen sichern – aber die Idee von einer Schule für alle, die durchlässig ist, die Kinder nicht festlegt, stigmatisiert oder gar abschult, funktioniert. Nicht zuletzt, weil die Gesamtschulen alle Bildungsabschlüsse anbieten. Die Gesamtschule hat in den zurückliegenden 50 Jahren maßgeblich zu Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit beigetragen. Sie ist sozial, innovativ und politisch.

Isabel Rojas
für die Landesfachgruppe Gesamtschulen