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Christoph Scheuring gewinnt den Heinrich-Wolgast-Preis

Am 17. September wurde in einer feierlichen Stunde der Heinrich-Wolgast-Preis der AJuM in der GEW verliehen. Dieser mit 2.000 Euro dotierte Preis wurde 1986 vom Bildungs- und Förderungswerk der GEW gestiftet, um die Darstellung der Arbeitswelt in der Kinder- und Jugendliteratur zu fördern. Verliehen wird der Preis alle zwei Jahre.

In diesem Jahr wurde das Buch „Sturm“ ausgezeichnet. Die Protagonistin Nora, die in schwierigen sozialen Verhältnissen aufwächst, zieht ihre Energie aus ihrem Engagement für den Tierschutz. Da sie dabei ziemlich rigoros vorgeht, muss sie 300 Sozialstunden auf einem Fischtrawler als „Observer“ abarbeiten. Konflikte mit den Fischern sind vorprogrammiert. In einem schweren Sturm gerät das Schiff in Seenot. Aber nicht nur das Wetter ist extrem stürmisch, auch in den Diskussionen prallen Meinungen aufeinander. Nora lernt: Einfache Antworten gibt es nicht.
Dieses Buch enthält viele Informationen, viel Stoff zum Nachdenken, viele kluge Sätze, viel Spannung. Laura Pooth sagte in ihrem Grußwort „Bücher spielen eine entscheidende Rolle beim Lernzuwachs“. Ist Wissen so gut verpackt wie in diesem Buch, macht Lernen Spaß und geschieht ganz nebenbei. Der Autor recherchierte selbst auf einem Fischtrawler und in einem Schlachthof. Ihm ist es wichtig, die Realität in den Vordergrund zu stellen.

Zur Arbeit der Jury – Interview mit Jurymitglied Simone Depner.
Simone, Du hast zwei Jahre als Mitglied der Jury für den Heinrich-Wolgast-Preis zahlreiche Bücher zum Thema „Arbeitswelt“ gelesen, einige aussortiert, andere favorisiert. Und schließlich musstest du dich mit den anderen drei Jurymitgliedern auf zehn wirklich lesenswerte Bücher für die Shortlist einigen und auf den Titel, der den mit 2.000 Euro dotierten Preis erhält. Diese Arbeit stelle ich mir interessant, aber auch zeitintensiv und nicht einfach vor. Damit sprichst du bereits viele Aspekte an, die dafür gesorgt haben, dass unsere Juryarbeit der letzten zwei Jahre so abwechslungsreich und gleichzeitig spannend verlaufen ist. Insgesamt hat diese Aufgabe meinen Horizont auf verschiedenen Ebenen erheblich erweitert. Zunächst habe ich naturgemäß sehr viele Neuerscheinungen gelesen, die die Bedeutung und Darstellung der Arbeitswelten abbilden. Besonders im letzten Jahr habe ich eine zunehmende Präsenz vor allem im Zusammenhang mit den Herausforderungen der Arbeitswelt in der Kinder- und Jugendliteratur wahrgenommen. Mit Sicherheit ist das auch eine Auswirkung der Pandemieerfahrungen. Wahrscheinlich bin ich aber auch sensibler dafür geworden, wie das Thema literarisch gestaltet wird. Das trifft auch für die literaturästhetische Gestaltung zu. Eine weitere Bereicherung sind die zahlreichen Kooperationen mit Kolleg*innen, die sich auch mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. Der Austausch mit Verlagen, Arbeitskreisen, Fachzeitschriften, Rezensent*innen, aber auch mit kreativen Personen aus der Book-Tubing-Szene ist reizvoll und gewinnbringend. Nicht zuletzt habe ich auch gelernt, meine eigenen Lesestrategien zu optimieren, denn allein die reine Lesetätigkeit nimmt viel Zeit und Raum (dies auch wörtlich genommen: meine Regale platen aus allen Nähten...) ein.

Wie viele Bücher habt ihr in den letzten zwei Jahren zum Thema Arbeitswelt gelesen? Und hat jede von euch alle Bücher gelesen?
Insgesamt hatten wir circa 130 Bücher zur Auswahl. Davon waren etwa 15 Titel Initiativbewerbungen, die wir entweder aus inhaltlichen oder aus konzeptionellen Gründen nicht berücksichtigen konnten. Von den verbleibenden 115 Büchern habe ich circa 100 gelesen. Gerade Bücher, bei denen wir eine hohe Erwartungshaltung hinsichtlich der Verhandlung der Arbeitswelt hatten, haben wir in der Regel alle vier gelesen. Wenn zwei Kolleginnen von uns nach der Lektüre eines Buches festgestellt haben, dass der Titel aus verschiedenen Gründen leider gar nicht in Frage kommt, kam es auch schon einmal vor, dass ich das Buch nur angelesen habe. Bücher, die sich mit dem Thema Arbeitswelt beschäftigen, enthalten das Wort ja nicht im Titel.

Wie habt ihr aus den unzähligen Neuveröffentlichungen die Bücher gefunden, die sich mit dem Thema beschäftigen?
Das ist tatsächlich gar nicht so einfach. Zuerst haben wir in allen uns bekannten Verlagen die Kataloge durchgeblättert, Klappentexte und Rezensionen gesichtet und auf dieser Grundlage erste Titel bestellt, gelesen und in kleinen  Lesezirkeln besprochen. Wie bereits erwähnt, war die Ausbeute zunächst spärlich. Dann haben wir einerseits unseren Suchradius etwas erweitert und auch in Fachzeitschriften, auf Online-Portalen, in Tageszeitungen, in Buchläden
und überall dort gesucht, wo uns Bücher begegnen. Andererseits haben wir uns auch abgesprochen, welches Verständnis wir eigentlich von dem Thema Arbeitswelten haben (wollen), und unsere Blickrichtung stärker geöffnet. Zum Beispiel haben wir vereinbart, auch Bücher zu sichten, die sich mit Kinderarbeit beschäftigen. Parallel haben wir erkannt, dass besonders durch die Digitalisierung auch ganz neue Arbeitsfelder im Bereich der künstlichen Intelligenz in der Literatur vorkommen. Eine weitere Ergänzung waren auch solche Titel, die die Arbeitswelt eher implizit ansprechen oder bei denen es nicht um klassische Ausbildungsberufe geht, zum Beispiel Erzählungen aus der Modelwelt oder aus dem Leben von Influencern. Dadurch sind wir relativ schnell in eine Surf-Bewegung gekommen und plötzlich hatten wir einen ganz ordentlichen Fundus an sehr diversen Titeln.

Die Wahl, euch auf einen Siegertitel zu einigen, war sicher nicht einfach. Welche Beurteilungskriterien habt ihr angelegt? Habt ihr zum Beispiel bewusst unterschiedliche Genreund Adressatengruppen berücksichtigt?
Als Dreh- und Angelpunkt gilt in dieser Jury das Themenfeld Arbeit mit all seinen Facetten und gesellschaftlichen wie ökonomischen Auswirkungen. Das ist natürlich ein weites Feld. Wir haben deshalb von Anfang an versucht, einen gesunden Ausgleich zwischen der Berücksichtigung von strukturierten Kriterien, aber auch unserer Intuition zu bewahren. Dazu gehört selbstverständlich auch eine sehr gepflegte Dokumentation, bei der wir alle gelesenen Titel aufgelistet und direkt nach der Lektüre mit einem Freitext individuell bewertet haben. Für den schnellen Zugriff haben wir zusätzlich mit einem Farbsystem eine Rangfolge festgelegt. Zu den konzeptionellen Auswahlentscheidungen zählt tatsächlich der
Einbezug unterschiedlicher Genres und Zielgruppen. So haben wir Bilder-, Kinder-, Jugend- und Sachbücher in einem sehr ausgewogenen Verhältnis eingebunden. Weiterhin war uns der literarische Anspruch wichtig. Hierzu zählen neben der Originalität und Kreativität besonders Aspekte der Erzählsituation, narrative und dramaturgische Handlungslogiken, aber auch Momente, die Irritation auslösen und auch Diskurse eröffnen. Literarisch wertvolle Gegenstände suchen ja bekanntlich aus sich heraus die Anschlusskommunikation. So war es uns ein Anliegen, auch alternative, beziehungsweise provokante Erzählungen, die vielleicht nicht in allen Bereichen konventionellen Erzählmustern folgen, stark zu machen. Zuletzt haben wir darauf geachtet, nur Bücher auszuwählen, die zwischen September 2019 und Mai 2021 erschienen sind.

Du und die anderen Jurymitglieder hatten 2019, als ihr euch dem Gesamtvorstand der AJuM zur Wahl gestellt habt, gewiss bestimmte Erwartungen an eure Tätigkeit. Haben sich diese Erwartungen erfüllt?
Das ist rückblickend eine interessante Frage. In erster Linie war ich sehr neugierig darauf, Literatur zu einem spezifischen Schwerpunkt, nämlich dem der Arbeitswelt, über einen längeren Zeitraum kontinuierlich zu verfolgen. Durch meine bis dato intensive Rezensionsarbeit bei der AJuM hatte ich eigentlich eher interessengeleitet Bücher ausgewählt. Nun kam diese thematische Klammer dazu, die auch meine Wahrnehmung bezüglich des Buchmarkts verändert hat. Ansonsten hatte ich zuerst Respekt vor dem zeitlichen Aufwand. Allerdings hat uns der Lockdown zumindest in diesem Bereich in zweierlei Hinsicht in die Karten gespielt: Wir konnten die Zeit zu Hause zum Lesen nutzen und durch den Digitalisierungsschub konnten wir unsere Besprechungen auf gewährten Plattformen ohne große Hindernisse realisieren.


Wie reagierten der Autor und sein Verlag, als sie eure Einladung zur Preisverleihung erhielten?
Nachdem wir Christoph Scheuring unsere Entscheidung per Mail im Juli 2021 mitgeteilt hatten, hat er sich innerhalb weniger Stunden zurückgemeldet und seine Freude über die Auszeichnung wirklich zum Ausdruck gebracht. Zur Erinnerung: Das kulturelle Leben nahm zu diesem Zeitpunkt gerade wieder Fahrt auf und so war diese Nachricht vielleicht auch ein Zeichen des Neubeginns. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er die Botschaft mit diesen Worten bewertet hat: „Das war mit Abstand die bisher beste Nachricht des Jahres.“ Simone Depner wird auch in den kommenden zwei Jahren in der Jury mitarbeiten.


Ulrike Fiene
AJuM Niedersachsen