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Recht

Auswirkungen des Herrenberg-Urteils

Herrenberg-Urteil: Was Honorarkräfte an Musikschulen jetzt zur Sozialversicherungspflicht und abhängiger Beschäftigung wissen müssen.

Kaum ein anderes Thema hat den Bereich der Kultur und der außerschulischen Bildung in den letzten Jahren so bewegt wie das Herrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 2022 und hat damit weitreichende Auswirkungen auf die Beschäftigungspraxis von Musikschulen und anderen Bildungseinrichtungen, die bislang mit Honorarkräften gearbeitet haben.

Das BSG entschied im Falle einer Honorarlehrkraft an einer Musikschule, dass eine abhängige Beschäftigung vorlag, was bedeutet, dass Sozialversicherungspflicht besteht. Das BSG hat damit das Kriterium der betrieblichen Eingliederung für Lehrkräfte, Dozent*innen und Lehrbeauftragten an Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen, Fachschulen, Volkshochschulen, Musikschulen sowie an sonstigen – auch privaten – Bildungseinrichtungen geschärft.

Das BSG stellte fest, dass die Musiklehrerin in die organisatorischen Abläufe der Musikschule eingebunden war. Dies zeigte sich unter anderem durch die Nutzung der Schulräume, die Integration in Stundenpläne und die Bereitstellung von Instrumenten durch die Schule. Diese Faktoren sprechen für eine abhängige Beschäftigung.

Im Anschluss an das Herrenberg-Urteil hat die Deutsche Rentenversicherung ihre Prüfkriterien, wann eine abhängige Beschäftigung vorliegt, angepasst und entsprechend präzisiert und schafft dadurch eine eindeutigere Rechtslage:

Eine freiberufliche Lehrtätigkeit ist mit einer in den Lehrbetrieb eingebundenen Lehrkraft in der Regel nicht vereinbar. Als Kriterien für diese Eingebundenheit sind zum Beispiel genannt: Unterricht auf Basis von Lehrplänen und Rahmenvorgaben (keine freie Tätigkeitsausübung), feste Arbeits- zeiten, Vertretungsregelungen, kein ernstzunehmendes unternehmerisches Risiko, kein nach außen hin unternehmerischem Auftreten am Markt, keine eigene Akquise von Schüler*innen, Lehre im Auftrag der Bildungseinrichtung ohne eigene Verträge mit den Schüler*innen, fester Stundensatz beziehungs- weise monatliches Arbeitsentgelt, Verpflichtung zur Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, Pflicht zur Teilnahme an Besprechungen, Konferenzen und vieles mehr.

Wie die nicht abschließend aufgezählten Kriterien zeigen, besteht weiterhin das Problem, dass das BSG stets im Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Umstände prüft und entscheidet. 

Perspektive der Gewerkschaft 

Seit dem Urteil beobachtet man vielerorts Unsicherheit. Während sich zum Beispiel der Verband Deutscher Musikschulen klar zum Urteil bekennt und seinen Mitgliedsschulen eindeutig empfiehlt, keine Honorarverträge mehr abzuschließen, zeigen sich andere Verbände ablehnend, aus Angst um ihre Existenz. Statt einen Strukturwandel einzuleiten, wird die Angst jedoch allzu oft weitergetragen an die mutmaßlich freiberuflichen Dozent*innen.

Die Sorgen vor Kürzung des Angebots und damit weniger Arbeit, die Ängste, nicht zu denen zu gehören, die angestellt werden, oder die Bedenken, in einem weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis nicht mehr „frei“ zu sein, sind groß und werden teilweise verstärkt. Dabei sollte jede*r Arbeitgeber*in Interesse daran haben, mit angestellten Mitarbeiter*innen einen Betrieb zu gestalten, mit dem sich die Kolleg*innen identifizieren und in dem man an gemeinsamen Leitlinien und Qualitätsstandards arbeiten kann. So hat unter anderem jede Musik(hoch)schule ein ureigenes Interesse daran, dass ihre Lehrkräfte auch freiberuflich auf der Bühne stehen und wichtige Erfahrungen für ihren Beruf sammeln, hier werden in aller Regel Möglichkeiten gefunden. Das vorgebrachte Argument, dass viele Lehrkräfte nicht angestellt sein wollen, ist empirisch nicht belegt und letztendlich auch nicht entscheidend. Es gibt nun Anhaltspunkte, wann eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt. Rechtlich gesehen ist ein freiwilliger Verzicht auf Sozialabgaben und die Wahl einer Honorartätigkeit nicht möglich. Der Arbeit- beziehungsweise Auftraggeber gibt aufgrund seiner Entscheidungen zu den Rahmenbedingungen vor, ob er eine Bildungseinrichtung mit Qualitätsstandards, Leitbild und guten Arbeitsbedingungen sein möchte oder ein loser Zusammenschluss freiberuflicher Lehrkräfte.

Mut zur Neugestaltung

Aus gewerkschaftlicher Perspektive steht fest: Ein Bildungseinrichtungsmodell, das seine Qualitätsstandards ausschließlich auf Freiwilligkeit, Berufsethos und das Pflichtbewusstsein der Lehrkräfte stützt, ohne den Beschäftigten die erforderlichen sozialen Sicherheiten zu bieten, ist nicht zukunftsfähig und darf es auch nicht sein.

Betriebsstrukturen, in denen nur auf Kosten der ausbleibenden sozialen Absicherung der Mitarbeiter*innen Angebote in einer guten Qualität, Bandbreite und ausreichendem Maße vorgehalten werden können, gehören aufgebrochen.

Die Bildungseinrichtungen, Geschäftsführungen und Träger sind aufgefordert, ihre Strukturen neu zu denken und an die rechtlichen Vorgaben anzupassen. Die Finanzierung muss sich daran orientieren. Nicht eine angemessene soziale Absicherung, sondern eine unzureichende und mangelhafte Finanzierung kann zu einer Reduzierung des Angebots führen. Die Verantwortung dafür tragen nicht die Lehrkräfte, sondern die Träger und Geschäftsführungen.

Sonderfall Musikhochschule

Auch an Musikhochschulen werden in großer Zahl Lehrbeauftragte beschäftigt, die aus Sicht der Hochschulleitungen freiberuflich tätig sind. Die Besonderheit: Anders als an anderen Hochschulen dürfen Lehrbeauftragte nach dem alten Hochschulrahmengesetz an Kunsthochschulen auch zur Sicherstellung der Lehre eingesetzt werden – worauf sich so manche Musikhochschule noch zu beziehen scheint. Spätestens an dieser Stelle steht eine freiberufliche Tätigkeit der Grundbeschaffenheit der Lehre an einer Musikhochschule diametral entgegen.

Selbstverständlich sind alle Lehrenden, die Fächer im Rahmen der Studien- und Prüfungsordnung unterrichten, dazu verpflichtet, sich nach dieser zu richten. Weiterhin gibt es keine gefestigte und langjährige Rechtsprechung, wonach eine lehrende Tätigkeit stets als selbstständig anzusehen wäre. Dies hat am 5. November 2024 der 12. Senat des Bundessozialgerichts entschieden (Aktenzeichen B 12 BA 3/23 R). Die Unterscheidung zwischen einem durch Verwaltungsakt erteilten Lehrauftrag, der ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis eigener Art begründet, und einer freiberuflichen Honorartätigkeit sollte keine Rolle bei der Bewertung der betrieblichen Eingebundenheit und einer abhängigen Beschäftigung gemäß Sozialgesetzbuch spielen und ist daher gleichermaßen betroffen. Hochschulen, im Speziellen Musikhochschulen, sind dringend angehalten, ihre Strukturen, in denen teilweise mehr Lehrbeauftragte als angestellten Mitarbeiter*innen und Professor*innen arbeiten, zu überarbeiten.

Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsrecht

Ein Statusfeststellungsverfahren, das sowohl durch Arbeit- oder Auftraggeber*innen als auch durch Arbeit- oder Auftragnehmer*innen eingeleitet werden kann, prüft, ob es sich nach dem Sozialgesetzbuch um eine abhängige oder selbstständige Tätigkeit handelt. Ziel ist es festzustellen, ob Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten sind. Vereinfacht gesagt, teilen sich im Angestelltenverhältnis Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in die Sozialabgaben, während Selbstständige allein für deren Zahlung verantwortlich sind. Sollte in einem Statusfeststellungs- verfahren festgestellt werden, dass es sich um eine abhängige Beschäftigung handelt und gehandelt hat, sind die Lehrkräfte für die entsprechenden Zeiträume rückwirkend zu versichern. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung gibt deutliche Hinweise, dass auch nach Arbeitsrecht eine abhängige Beschäftigung vorliegt. Es ist aber nicht grundsätzlich aus- geschlossen, dass nach Arbeitsrecht eine selbstständige Tätigkeit vorliegt, jedoch der Auftraggeber nach Sozialgesetzbuch verpflichtet ist, für die Sozialabgaben aufzukommen. Es besteht derzeit kein zwingender Gleichklang zwischen arbeitsrechtlichem Arbeitnehmer- und sozialversicherungsrechtlichem Beschäftigtenbegriff.

Für Lehrbeauftragte an Musikhochschulen gilt: Grundsätzlich lässt sich im Falle der Feststellung einer abhängigen Beschäftigung nach Sozialgesetz aus einem Lehrauftrag (öffentlich-rechtlich) nach aktueller Rechtslage nicht direkt ein Anstellungsverhältnis (privatrechtlich) begründen, da der öffentlich-rechtliche Status bestehen bleibt, solange der Verwaltungsakt, durch den der Lehrauftrag erteilt wurde, nicht als nichtig erklärt wird. Die der Landesrechtsstelle bekannten Statusfeststellungsverfahren durch Lehrbeauftragte nach dem Herrenberg-Urteil scheinen bisher größtenteils darauf hinzudeuten,

dass eine abhängige Beschäftigung vorliegen könnte. Dies verdeutlicht den dringenden Reformbedarf in der Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse.

Austausch und Unterstützung

Wer diese Probleme kennt und sich in genau dieser Situation befindet, melde sich gerne beim Tarifsekretär Arne Karrasch unter a.karrasch(at)gew-nds(dot)de. Ein Ziel ist es, einen Raum für Aus- tausch und gegenseitige Hilfe zu schaffen, in dem gemeinsam Wege und Lösungen besprochen werden können: