Reform der Lehrkräftebildung aus sonderpädagogischem Blickwinkel
Wer im System Schule arbeitet, erfährt schon seit längerer Zeit immer wieder Erschütterungen, die letztendlich die Frage aufwerfen: Wer will denn diesen Job in Zukunft noch machen? Auch medial wird viel diskutiert und deutlich benannt. Gravierender Personalmangel, schlechtes Abschneiden bei Bildungsvergleichstests und steigender gesellschaftlicher Druck, all das und mehr lastet auf den Schultern derer, die in Schule arbeiten. Eine Reform der Lehrkräftebildung ist zwingend nötig.
Vorschläge für Veränderungen wurden in den vergangenen Jahren intensiv erarbeitet und zahlreich vorgelegt. Beispiele dafür bieten die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz, der Stifterverband (November 2023) und der Bildungsrat von unten (Januar 2024). Auch die GEW hat im Januar 2024 mit dem Eckpunktepapier für die Reform der Lehrer*innenbildung in Zeiten des Fachkräftemangels eine deutliche Position eingenommen. Mit Spannung wurde die Mitteilung der KMK im März 2024 erwartet.
Auf der Klausurtagung der Fachgruppe Sonderpädagogik am 4. und 5. März 2024 in Hannover haben die Teilnehmenden versucht, eine Position mit sonderpädagogischem Blickwinkel zu finden. Der Themenschwerpunkt lag in der Sondierung des Ist-Standes der Sonderpädagogik in der niedersächsischen Schule und Ausbildung der Lehrkräfte. Neben der Vorstellung des Stufenlehramtes wurde ein Abriss der bisherigen Bemühungen um eine Reform der Lehrkräftebildung skizziert und diskutiert. Danach arbeiteten Arbeitsgruppen schwerpunktmäßig an Teilfragen weiter.
Wie geht es weiter mit den Kolleg*innen an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen, wie gestaltet sich überhaupt die Zukunft der Sonderpädagogik im inklusiven Kontext? Wann bekommen die Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren Inklusive Schule (RZI) weitere Ressourcen zur Verfügung gestellt, um ihr volles Potenzial zu nutzen? Kann man auf die Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs verzichten? Was stützt diese Idee? Und was braucht die Lehrkräfteausbildung, damit Inklusion nicht mehr als Belastungsfaktor identifiziert wird, sondern als Gewinn? Wie hätte man den in Niedersachsen geplanten Modellversuch Stufenlehramt dazu nutzen können?
Inzwischen ist mehr als ein halbes Jahr vergangen. Die KMK veröffentlichte im März ein verhältnismäßig kurzes Statement, in dem unter anderem geeignete Studienmodelle für das Duale Lehramtsstudium angeführt werden. Die KMK selbst betitelte ihre Ideen als innovative Wege zur Bewältigung des Lehrkräftemangels1. Die meisten Punkte, die die SWK, der Stifterverband und auch die GEW vorgeschlagen hatten, blieben unberücksichtigt. Derweil befinden sich einige Bundesländer schon in den Startlöchern zum Dualen Lehramtsstudium (beispielsweise Baden-Württemberg oder Thüringen) oder setzen es bereits um (Brandenburg oder Schleswig- Holstein, hier nur Sonderpädagogik). Die KMK betont aber, dass das Duale Lehramtsstudium bestenfalls das reguläre Lehramtsstudium ergänzt. Ende Juni kam es dann zu Irritationen, denn im Haushaltsplan des Landes Niedersachsen für das Haushaltsjahr 2025 fehlen die Aufwendungen für das geplante Stufenlehramt. Wissenschaftsminister Falko Mohrs (SPD) bedauert, dass das Stufenlehramt aus finanziellen Gründen nicht im Regierungsentwurf enthalten ist, betont aber, Niedersachsen halte an der geplanten Reform fest. Nun steht Niedersachsen sozusagen eine Reform auf Eis bevor.
Ebenfalls im Juni erklärte die Kultusministerkonferenz eine Neuausrichtung ihrer Arbeitsstrukturen3. Sie beinhaltet eigenständige Ministerkonferenzen der drei Bereiche Bildung, Wissenschaft und Kultur. Damit könne effizienter und schneller auf Herausforderungen reagiert werden. Ob diese Neustrukturierung den gewünschten Effekt bringen wird, bleibt zu hoffen. Gerade der Bereich Lehrkräftebildung hängt stark von der Zusammenarbeit des Wissenschaftsministeriums mit dem Kultusministerium ab. Der Fachgruppe Sonderpädagogik bleibt nur ihr Blick auf Schule und Aus-, Fort- und Weiterbildung aus der Praxis. Und von dort steht fest: der Erfolg einer Bildungsreform hängt vor allem davon ab, ob endlich einer grundsätzlichen Heterogenität in Schule und Ausbildung Rechnung getragen wird. Die Qualifikation, um mit Heterogenität gewinnbringend umzugehen, erwirbt man nicht nur in der Sonderpädagogik und auch nicht nur im Studium. Ebenso sind daran nicht nur Lehrkräfte beteiligt, sondern wesentlich mehr Akteure im multiprofessionellen Team. Eine Bildungsreform muss daher wesentlich breiter gedacht werden.
Die Fachgruppe fordert, dass Anlaufstellen der regionalen Landesämter wie das RZI an die jeweiligen Regionen angepasst freier und effizienter arbeiten, als sie es bisher tun. Der Erfahrungsaustausch der Arbeitsgruppe zum Thema RZI auf der Klausurtagung hat dies sehr deutlich gemacht.) Das Hauptanliegen der Fachgruppe Sonderpädagogik ist eine allgemeine Pädagogik für alle Schüler*innen als Grundlage der Ausbildung. Wissen um die Aspekte im Umgang mit den Unterstützungsbedarfen Lernen und Emotionale und Soziale Entwicklung gehört dabei nicht in den Studiengang Sonderpädagogik, sondern in ein Grundstudium der allgemeinen Pädagogik für alle. Kognitive und emotional-soziale Heterogenität (elementar bis hochkomplex) sind Teil diversen Lebens und Lernens an allen Schulformen und gehören nicht in Sonderkategorien.
Grundsätzlich ist bei der Lehrkräftebildung aber auch wichtig, alle Phasen wertzuschätzen und zu unterstützen. Die Ausbildung von Lehrkräften findet nicht nur in der Universität statt. Vielmehr beginnt sie nach Vorstellung der Fachgruppe Sonderpädagogik schon bei den Vorerfahrungen, die man vor dem Studium macht und zieht sich über das Studium und den Vorbereitungsdienst bis hin in die aktive Phase des Lehrer*in-Seins. In dieser Phase ist sowohl der Berufseinstieg von Bedeutung als auch der Bereich Fort-und Weiterbildung. Als Lehrkraft gut anzukommen und motiviert zu bleiben, seine Schwerpunkte zu professionalisieren und sich weiter entwickeln zu können, führt zu mehr Resilienzen in schulischen Berufsfeldern. Doch schon beim Studium fällt auf: Studierende bekommen voneinander nichts mit, die Sonderpädagogik kooperiert nicht mit den anderen Lehrämtern und wenn, dann nur aufgrund von Ausnahmen oder besonderem Engagement von Lehrenden. Für Kooperation und Multiprofessionalität muss es an den Unis Ressourcen geben, damit Team-Teaching in der regulären Lehre nicht nur erwähnt wird, sondern auch gezeigt werden kann. Stattdessen gibt es kaum räumliche Nähe der Disziplinen und damit wenig Anknüpfungspunkte. Bei der Vorbereitung des Stufenlehramtes war von Anfang an genau dies symptomatisch: die Sonderpädagogik wurde augenscheinlich nicht mitgedacht.
Welche Position nimmt die Sonderpädagogik wo und wie ein? Wie wird in Zukunft ausgebildet? Welches Arbeitsfeld erwartet angehende Sonderpädagog*innen? Und worauf werden sie in Studium und Vorbereitungsdienst genau vorbereitet? Zu diesen Themen muss weitergearbeitet werden, die Fragen sind noch lange nicht beantwortet und die Arbeitssituation für viele Kolleg*innen weiterhin nicht klar. Die Arbeitsgruppe, die sich mit der Fragestellung beschäftigte, wie es mit der Sonderpädagogik im inklusiven Kontext Niedersachsens in Zukunft weiter gehen sollte, konstatierte auch, dass diese Arbeit in erster Linie Teamarbeit ist. Unerlässlich dafür ist die Arbeit in multiprofessionellen Teams und die Vernetzung von Sonderpädagog*innen untereinander. Entsprechende Forderungen dazu gelten auch für den Bereich der Ausbildung. Schule und Ausbildung sind ein ganzheitliches System, bei dem eine Veränderung nicht durch Feuerwehrmaßnahmen wie die Zusicherung von zusätzlichen Einstellungen oder dem Tipp, mehr Yoga zu machen, erreicht werden kann. Reformen sind jetzt nötig und sollten kein Zugeständnis, sondern ein Auftrag zu bleibenden Verbesserungen sein.
Die Fachgruppe Sonderpädagogik fordert in allen Bereichen der Aus-, Fort- und Weiterbildung eine implementierte und etablierte Auffassung einer grundsätzlich heterogenen Schüler*innenschaft, weshalb die Ausbildung um diesen Faktor dringend umfänglich ergänzt werden muss Vernetzung und Kooperation in allen Bereichen der Lehrer*innenbildung und darüber hinaus in alle angrenzenden Disziplinen ist ein unverzichtbarer Bestandteil des täglichen Universitäts- und Schullebens und steter Anstoß zur Qualitätsentwicklung. Dafür muss Raum und Zeit gewährt werden. Bildung muss kosten! Denn sie ist eine Investition in die Zukunft. Und sie kostet Mühe, Zeit und Geld. Wer dies verneint oder Kostenneutralitätsansprüche anstrebt, der will auch nicht reformieren.