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Pädagogik der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt heute

Zwischen Fortschritt und „Alter Schule“

Im Mai 2021 fand im Rahmen der digitalen Veranstaltungsreihe GEW & Equality eine Talktime zum Thema „Pädagogik der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt als Herausforderung heute“ statt, verantwortet vom Arbeitsbereich Frauen-, Geschlechter- und Gleichstellungspolitik der GEW-Bundesebene. Dr. Ulrich Klocke (Sozialpsychologie Humboldt-Universität Berlin) und Dr.in Marion Thuswald (Bildungswissenschaften Akademie der Bildenden Künste Wien) waren zu Gast. Eindringlich und anschaulich wurde den fast fünfzig Teilnehmer*innen die alltägliche Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen Identität und der sexuellen Orientierung – vor allem auch im Bildungssektor – vor Augen geführt.

Die anschließende Diskussion ging unter anderem der Frage nach, was Pädagog*innen tun können, um die Situation von LSBTIQ*-Jugendlichen (lesbische, schwule, bisexuelle, Trans-, Inter* und queere Menschen) zu verbessern. Im abschließenden, sehr regen Austausch gab es – auch untereinander – zahlreiche praktische Hinweise für den pädagogischen Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im Bildungs- und Erziehungsalltag. In den vergangenen Jahren lässt sich eine Verstärkung von überholt geglaubten Geschlechterklischees besonders am rechten Rand beobachten. Gleichzeitig gehen aber wohl die meisten Menschen im Bildungssektor von einer Liberalisierung und damit einem offeneren Umgang mit den Themen Homo- oder Bisexualität Trans- und Intergeschlechtlichkeit in den zurückliegenden Jahren aus.
 

Befragungsergebnisse
Dr. Ulrich Klocke berichtete über eine Schüler*innen-Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBTIQ* an Berliner Schulen aus dem Jahr 2012, die klar zeigt, dass ein offener Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in den Bildungseinrichtungen aber eher selten vorhanden ist. Die Mehrheit der LSBTIQ*-Jugendlichen erlebt im Alter von 11 bis 14 Jahren das innere Coming-Out (erkennt also selber die eigene sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlechtliche Zugehörigkeit und weiht dann mit 17 bis 18 Jahren eine weitere Person (äußeres Coming-Out) ein (Deutsches Jugendinstitut, Krell & Oldemeier, 2015).
Bei einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage von 16- bis 30-Jährigen in Deutschland berichten aber 64 Prozent der Befragten, dass sie in Schule und Ausbildung nie (!) Unterrichtsbeispiele oder Materialien verwendet haben, in denen (auch) LSBTIQ* Menschen vorkamen. 74 Prozent der Befragten berichten, dass es in der Schullaufbahn keine Lehrkräfte gab, die offen mit ihrer eigenen LSBTIQ* Orientierung umgingen, 50 Prozent haben diese Erfahrung auch bei ihren Mitschüler*innen gemacht (Küpper, Klocke & Hoffmann, 2017). Bei einem Coming-Out befürchten 61 Prozent der LSBTIQ* Jugendlichen Probleme in Schule und Ausbildung.
Nicht verwunderlich, dass sie häufiger an Depressionen, Angststörungen und höherer Suizidalität leiden als hetero-cis Jugendliche (die eine mit dem körperlichen Geschlecht übereinstimmende Geschlechtsidentität haben) (Deutsches Jugendinstitut, Krell & Oldemeier, 2015). Wie kann also in den Bildungseinrichtungen die Situation von LSBTIQ* Jugendlichen verbessert werden? Ulrich Klocke schlug dazu vor:

  •  persönliche Kontakte zu ermöglichen und herzustellen,
  •  Wissen, Sichtbarkeit und Empathie zu erhöhen,
  •  Geschlechternormen zu reflektieren,
  •  gegen Mobbing und Diskriminierungen zu intervenieren.

Pädagogische Optionen
Im zweiten Teil der Talktime beschäftigte sich Dr.in Marion Thuswald mit den pädagogischen Mitteln und Möglichkeiten. Sie untersuchte in ihrer Promotionsarbeit Sexualität als pädagogisches Thema und fragte danach, wie sexualpädagogische Professionalisierung in der Lehrer*innenbildung gestaltet werden kann. Dabei fragte sie nach „Sprachlosigkeit, Lust, Verletzbarkeit und Emanzipation als Herausforderungen pädagogischer Professionalisierung“. Wichtig ist in diesem Zusammenhang für eine „Vielfalt in der Vielfalt“ zu sensibilisieren. Zu Sensibilisierung und Empowerment gehört auch ein vielfältiges Angebot von Identifikationsfiguren (in Wort und Bild) genauso wie die thematische Verschränkung der verschiedenen Diskriminierungsformen.
Auf die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in den Bildungseinrichtungen einzugehen, ist besonders wichtig,denn es bedeutet

  •  ein Empowerment für (potentiell) queere Schüler*innen
  •  einen Abbau von Unsicherheit und Vorurteilen durch Wissen und Aufklärung
  •  eine Beseitigung der rigiden Geschlechter- und Sexualnormen, die alle einschränken
  •  die Stärkung des Selbstbewusstseins und einer demokratischen Grundhaltung durch die Anerkennung der eigenen Vielfältigkeit und Ambivalenzen
  •  eine Erweiterung der eigenen Handlungsoptionen durch das Kennenlernen vielfältiger Lebensformen
  •  Gewaltprävention für alle
  •  eine Sensibilisierung auch für andere Diskriminierungsformen
  •  die Förderung eines angstfreien, inklusiven Schulklimas, von dem alle profitieren.

Die abschließende Gesprächsrunde verdeutlichte die Verpflichtung für Pädagog*innen, sensibel und offen mit diesem Thema umzugehen. Allen Kolleg*innen muss schon während ihrer Ausbildung Gender-Kompetenz vermittelt und den bereits im Beruf stehenden Pädagog*innen müssen Fortbildungsangebote gemacht werden. Noch immer ist sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Schule erschreckend unsichtbar. Als Konsequenz müssen Lehr- und Lernmaterialien die Existenz von Vielfalt zeigen und die gesetzlichen Vorgaben zu den Lehrplänen sind endlich umzusetzen. Eine Schule der Vielfalt ist dringend notwendig! Positive Entwicklungen müssen auch von der GEW und ihren Mitgliedern weiterhin entschieden unterstützt werden, auf dass es in Zukunft gelingen kann, auf Grundlage der bereits vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen ein wirklich inklusives Schulklima zu schaffen. „Springen müssen die Jugendlichen für sich alleine“, das kann ihnen niemand abnehmen. Doch Lehrkräfte haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Wasser im Becken ist und ein Freischwimmen möglich sein kann!

Dr.in Monika Brinker
Referat für Frauen- und Gleichstellungspolitik sowie AK Queer
Ute Wiesenäcker
Landesfrauenausschuss

 

Einige Materialien zum Thema
– „Schulbuchcheck“: Bücher schon überprüft?: GEW Niedersachsen www.gew-nds.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/schulbuchcheck-buecher-schon-ueberprueft
– Schwabe, R. (2019): Darstellung von Vielfalt in Schulbüchern: Aber uns gibt es doch! b&w: bildung und wissenschaft – Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg, (9), 36-37. www.gew-bw.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/aber-uns-gibt-es-doch
– Annika Spahn, Juliette Wedl (Hg.): Schule lehrt/lernt Vielfalt - Praxisorientiertes Basiswissen und Tipps
für Homo-, Bi-, Trans und Inter*freundlichkeit in der Schule http://gender.rz.tu-bs.de/schule-lehrt-lernt-vielfalt
– „In meiner Klasse gibt es keine, oder?“ – Wie sie Homo- und Transphobie bei Kindern und Jugendlichen abbauen können. Bei www.gew-nrw.de über Suchfunktion zu finden
– Für eine Pädagogik der Vielfalt – Argumente gegen ultrakonservative, neu-rechte und christlich-fundamentalistische Behauptungen, GEW 2017 2. Auflage www.gew.de/gleichstellung/gender-diversity/paedagogik-der-vielfalt