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Wiedergewinnung des Berufsstandes „Wissenschaftler*in ohne Professur“

Widerstand gegen das wissenschaftliche Prekariat

Die prekäre Beschäftigung von Wissenschaftler*innen ohne Professur ist inzwischen als Problem weitgehend anerkannt und hat nicht nur in der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) oder den Bedingungen der Bund-Länder-Vereinbarung „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ ihre Spuren hinterlassen. Auffallend ist, dass sich die Verhältnisse dennoch kaum verändern (vgl. Gassmann 2020).

Viele Initiativen arbeiten inzwischen über eine Problemdiagnose hinaus an Lösungen, wie man die zentrale Forderung nach „Dauerstellen für Daueraufgaben“ umsetzen kann. Vorschläge reichen von einer 50-Prozent-Quote für entfristete Stellen „unterhalb der Professur“ (GEW 2020) über strukturelle Reorganisationen der Personalkategorien (Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft 2020) bis hin zur Einführung von Department-Strukturen (Specht 2017) oder Tenure-Programmen (DGPhil/GAP 2018).

Doch bevor solche Maßnahmen greifen können, müssen die Rahmenbedingungen aufgelöst werden, die die gegenwärtigen Phänomene bedingen. Wie lassen sich diese rekonstruieren?

Unter dem Stichwort eines „kognitivkulturellen Kapitalismus“ entwickelt Reckwitz (2017, 2020) für die Gesamtgesellschaft die Grundthese, dass sich aus einer relativ geschlossenen „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ zwei neue Klassen etablieren und sich gegenüber der alten Mittelklasse „nach oben“ beziehungsweise „nach unten“ abgrenzen: Zum einen die sogenannte „neue Mittelklasse“, die beschrieben wird als urban, globalisiert flexibel und akademisch gebildet, ausgestattet mit hohem sozialen und symbolischen Kapital, aber auch immer bestrebt, dieses Kapital zu vergrößern und sich als singulär herauszuheben. Zum anderen eine „prekäre Klasse“, deren Mitglieder als „Dienstleistungsproletariat“ die Tätigkeiten unter Bedingungen großer Unsicherheit übernehmen und mit sehr geringem Ansehen, geringer Stabilität und geringen Kapital ausgestattet sind.
Analog dazu kann man im universitären Bereich beobachten, dass sich im akademischen Kapitalismus (Münch 2011) der Wissenschaftsberuf in eine „gehobene“ Klasse der etablierten, verbeamteten Hochschullehrer*innen und einer stetig wachsenden Gruppe der abhängig und in steter Unsicherheit beschäftigten Wissenschaftler*innen ausdifferenziert hat. In Fortführung der Analogie ließe sich die „alte, nivellierte Mittelklasse“, die für Reckwitz den Ausgangspunkt darstellt, für die Strukturen an Universitäten rückblickend als ein Arbeitsbündnis von Hochschullehrer*innen und ihren Mitarbeiter*innen deuten, zwei Gruppen von Wissenschaftler*innen, die eng aufeinander bezogen arbeitsteilig den wissenschaftsbetrieb getragen haben. Diese Sicht soll nicht die problematischen Abhängigkeiten romantisieren, die diesem Arbeitsbündnis auch inhärent waren und als „feudalistisch“ analysiert werden können (vgl. Reitz 2021). Hier soll
aber die strukturelle Stabilität der Arbeitsteilung und die eigenständige Professionalität der abhängig beschäftigten Wissenschaftler*innen als Typus eines verlorenen Berufsstandes modellhaft in den Blick genommen werden.
Die Auflösung dieses Arbeitsbündnisses ließe sich entsprechend deuten als Herausbildung einerseits der „Klasse der Hochschullehrer*innen“ im Sinne einer Gruppe der gehobenen Dienstleister*innen im Wettbewerb um die singulären Kapitalanteile mit Privilegien im Bereich der akademischen Freiheit. Sie sind allerdings eng eingebunden in die Zwänge des „ökonomischen Erfolgsdrucks“ ihrer wissenschaftlichen „Singularisierungsarbeit“. Andererseits ist die Gruppe der
Mitarbeiter*innen durch erheblichen Rückbau der Dauerbeschäftigung zum Wissenschaftsproletariat in prekärer Beschäftigung abgesunken. Ihre Zahl ist erheblich gewachsen, ihre Beschäftigungsdauer und -sicherheit erheblich geschrumpft. Es werden immer mehr Menschen mit immer weniger Erfolgsaussichten beschäftigt (Holderberg, Seipel 2021). Um dieses Prekarisierungsgesche hen unsichtbar zu machen, werden die Personengruppen, die früher als wissenschaftlicher Mittelbau einen eigenen Berufsstand ausgemacht haben, zu Qualifikant*innen eines umfassenden Qualifikationsapparates umgedeutet. Nahezu jede beliebige Tätigkeit scheint in der aktuellen Anwendung des WissZeitVG als Qualifikation darstellbar zu sein (vgl. Niedersächsischer Landtag 2019), da sie mit Erfahrungsgewinnen verbunden ist, Dauertätigkeit kann so entgegen der Gesetzesintention befristet werden (vgl. NHG § 3 Abs. 1 Satz 2). Zugleich wird den so Beschäftigten mit den Begriffen „Qualifikation“ und „wissenschaftlicher Nachwuchs“ die Aussicht auf einen Aufstieg suggeriert, der aber wegen der weitgehenden Abschaffung der Dauerbeschäftigung im Mittelbau und der geringen
Zahl besetzbarer Professuren stattdessen zu einem massenhaften Ausstieg aus dem Wissenschaftsbetrieb führt.
Vor dem Hintergrund dieses Modells lässt sich demnach die Entwicklung des akademischen Mittelbaus als Desolidarisierungsprozess durch die Mechanismen eines kognitiv-kulturellen Kapitalismus nachvollziehen. Dieser Kapitalismus beruht auf der Verbilligung von Forschungstätigkeiten durch weit überwiegenden Einsatz von „Nachwuchs“ und Verbilligung von Lehrtätigkeiten zum Beispiel durch Lehraufträge und Hochdeputatsstellen. Dies öffnet den Spielraum, in dem für den künstlich erzeugten Wettbewerbsmarkt das Kapital abgeschöpft werden kann, das über die leistungsorientierten Kriterien umverteilt wird und Gewinner und Verlierer im Konkurrenzgeschehen erzeugt. Der künstliche Wettbewerb basiert auf der Prekarisierung der so beschäftigten Wissenschaftler*innen. Der Prekarisierungsprozess lässt sich demnach nur umkehren, wenn man diesen Zusammenhang zwischen Ökonomisierung und Prekarisierung auflöst. Unter den gegenwärtigen Strukturen ist kaum eine Solidarisierung – sei es innerhalb der prekarisierten Klasse oder zwischen dieser Klasse und der Gruppe der Hochschullehrer*innen – möglich. Letzteres erfolgt allenfalls punktuell als Reminiszenz an die Loyalitätsverhältnisse des alten Arbeitsbündnisses. Die Reetablierung eines neuen Arbeitsbündnisses erfordert allerdings die Reformulierung des Berufs eines*r „Wissenschaftler*in ohne Professur“ in Abgrenzung von, aber auch mit Bezug auf die beziehungsweise den „Wissenschaftler*in mit Professur“. Erst dann wird sich plausibel erläutern lassen, was dieses Berufsbild ausmacht und was eigentlich die Daueraufgaben dieses Berufsstandes sind, und zwar jenseits der absurden Verbiegungen zu Qualifikationstätigkeiten oder Projektbindungen über das WissZeitVG. Die Rückbesinnung auf die „Wis senschaft als Beruf“ macht auch bewusst, inwieweit die Ökonomisierung zu einer pervertierenden Umkehrung der Ziel-Mittel-Relation in der Wissenschaft geführt hat: Forschung und Lehre als Kernprozesse der Universität haben ihre Rolle gewechselt und stellen Ressourcen zur Gewinnung von symbolischem oder materiellem Kapital dar. Dieses wieder zurückzudrehen bedeutet, die Wissenschaft von den ökonomischen Zwängen zu befreien, sowohl systemisch hinsichtlich des künstlich erzeugten Wettbe werbs als auch subjektiv hinsichtlich der Freiheit von Befristungen und bedrohlichen Existenzunsicherheiten.
 

Yoshiro Nakamura

 

Literatur
DGPhil/GAP (2018) (Deutsche Gesellschaft für Philosophie und Gesellschaft für Analytische Philosophie): Nachhaltige Nachwuchsförderung. Vorschläge für eine Strukturreform an Instituten für Philosophie. Positionspapier. In: Information Philosophie, Heft 2, 100-104.
Gassmann, F. (2020): „Befristete Beschäftigung von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Hochschulen in Deutschland – Eine erste Evaluation der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes“. www.gew.de/evaluationwisszeitvg (Abfrage: 14. August 2020).
GEW (2020): Online-Petition „Dauerstellen für Daueraufgaben, mindestens aber 50 Prozent!“, www.gew.de/presse/pressemitteilungen/detailseite/neuigkeiten/gew-dauerstellen-fuer-daueraufgaben-mindestens-aber-50-prozent (Abfrage: 27. Juni 2021)
Holderberg, P., Seipel, Chr. (2021): Die prekäre Beschäftigungs- und Karrieresituation des wissenschaftlichen Mittelbaus in Deutschland. In: Dies. (Hgg.): Der wissenschaftliche Mittelbau – Arbeit, Hochschule, Demokratie, Weinheim: Beltz Juventa, S. 8-33. Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (2020): Personalmodelle für Universitäten in Deutschland. Alternativen zur prekären Beschäftigung. Berlin. https://mittelbau.net/wp-content/uploads/2020/11/Personalmodelle_final.pdf (Abfrage: 27. Juni 2021)
Münch, R. (2011): Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Berlin: Suhrkamp.
Niedersächsischer Landtag (2019): Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung, Drucksache 18/4787. www.landtag-niedersachsen.de/drucksachen/drucksachen_18_05000/04501-05000/18-04787.pdf  (Abfrage: 27. Juni 2021)
Reckwitz, A. (2019). Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin: Suhrkamp.
Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
Reitz, T. (2021): Prestigekonkurrenz und akademischer Neofeudalismus. In: Holderberg, Per, Seipel, Christian (Hgg.): Der wissenschaftliche Mittelbau – Arbeit, Hochschule, Demokratie, Weinheim: Beltz Juventa, S. 61-81.
Specht, J., Hof, Chr., Tjus, J., Pernice, W., Endesfelder, U. (2017): Departments statt Lehrstühle. Moderne Personalstruktur für eine zukunftsfähige Wissenschaft