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Was bringt die Kolleg*innen auf die Palme?

In den Wahlaussagen der CDU Niedersachsen steht die Wiedereinführung der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen (FÖS Lernen) auf der Agenda. Die FDP Niedersachsen setzt mit ihrem Volksbegehren für den Erhalt dieser Schulform noch eins drauf. Was treibt Politiker*innen um, die bislang unzureichende, inkonsequente und zögerliche Entwicklung eines inklusiven Schulsystems in Niedersachsen für eine inklusive Gesellschaft so neu aufzustellen?

Noch im Juni 2021 haben die Fraktionen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam die Entschließung „Umsetzung der Inklusion an Niedersachsens Schulen verbessern“ im Landtag mit großer Mehrheit
angenommen. Das geplante und beschlossene Auslaufen der FÖS Lernen ist eng verknüpft mit der Perspektive einer
gesamtschulischen Inklusionsentwicklung. Die Begründung ihres Erhalts hingegen hat ihren Ursprung in der fehlenden konzeptionellen Grundlegung und der personellen Unterversorgung im gesamtschulischen Setting. Ein Erhalt der FÖS Lernen wäre ein tiefgreifender Rückschritt. Nach jahr-zehntelangem Einsatz für eine inklusivere Schule in Niedersachsen kann diese Forderung nicht unwidersprochen bleiben. Sie ist Ausdruck eines mangelnden Grundverständnisses von Inklusion und gravierendes Verkennen dessen, was Inklusion im Kern bedeutet.
Verwirklichte und gelebte Inklusion wäre das eingelöste Versprechen bedingungsloser und barrierefreier Zugehörigkeit und Teilhabe aller Menschen in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, und somit an einem hochwertigen und unentgeltlichen Schulunterricht, wie es in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Artikel 24 gefordert wird. 2008 hat Deutschland diese unterzeichnet. Das Gesetz zum Übereinkommen der UN über die Rechte der Menschen mit Behinderungen trat zum 1. Januar 2009 in Kraft. Die Bundesländer haben für die Umsetzung zu sorgen.
Das Auslaufen einer separierenden Schulform ist ein wichtiger, wenn auch nicht ausreichender Beitrag auf dem Weg zu einem Schulsystem, das die Bezeichnung „inklusiv“ verdient. Lernen ist ein zutiefst individueller, autonomer kognitiver Aneignungsprozess, der von äußeren Lebensumständen geprägt wird. Es ist selbstverständlicher Bildungsauftrag aller Schulen, entwicklungsdienliche Lernumgebungen zu realisieren und zu gestalten.
Absurd und kontraproduktiv hingegen ist es, einen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen als „feststellbare“, objektivierbare Kategorie anzunehmen und damit Menschen zu etikettieren, deren individuelle Lernentwicklung nicht im Gleichklang mit curricularen Anforderungen erfolgt. Anders ausgedrückt: Dieser Förderschwerpunkt existiert, weil er festgestellt wird und weil seine Feststellbarkeit als „Wahrheit“ akzeptiert und nicht in Frage gestellt wird. Aus der wissenschaftlichen Forschung ist bekannt, dass FÖS Lernen keine entwicklungsdienlichen Lernumgebungen darstellen. Negative Effekte auf Lernentwicklung und seelische Gesundheit können vielfach in einschlägiger Fachliteratur nachgelesen werden (siehe www.inklusionsfakten.de). Im Bildungsauftrag des niedersächsischen Schulgesetzes ist der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung an zentraler Stelle verankert und mit ihm die dem Grundgesetz beziehungsweise der Verfassung zugrunde liegenden Werte. „Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen...“ (NSchG, §2 Bildungsauftrag der Schule). Auch in diesem Zusammenhang wäre es mehr als nur wünschenswert, wenn Bildungspolitik und Schule sich auf die dort ebenfalls benannten „Grundsätze der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz“ (ebd.) besinnen und 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK das Menschenrecht auf inklusive Bildung ohne jeden Etiketten- und Etikettierungsschwindel vorleben und einlösen würde. Sowohl für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und die Bildungsbiographie des einzelnen Menschen als auch für den Frieden in der Gesellschaft stellen Stigmatisierung und kategoriales Denken gravierende Risikofaktoren dar. Pädagog*innen brauchen keine Kategorien. Sie können Schüler*innen ohne Zuschreibungen fordern und fördern, dabei enorme, oft sprunghafte Entwicklungen beobachten und es als selbstverständlich betrachten, in bestimmten Lebenslagen oder Entwicklungsphasen mehr unterstützend zu begleiten als in anderen. Benötigt werden starke Schulen mit ausreichend Personal. Bereits 2018 stellt der Niedersächsische Landesrechnungshof in seinem Prüfbericht „Schulische Inklusion in Niedersachsen“ die Schulgesetzänderung von 2013 voran, dass nach § 4 NSchG alle Schulen inklusive Schulen sind und es nicht um die Frage gehen kann, ob die Inklusion an sich in Frage zu stellen ist. In dem Prüfbericht werden für Niedersachsen sehr große regionale Unterschiede in der Teilhabe von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf
in der allgemeinen Schule festgestellt. Ebenso wird in Frage gestellt, ob die kostenintensive Doppelstruktur von
Förderschulen und inklusiven Regelschulen aufrechterhalten werden sollte. Eine umfassende Evaluation wird
angemahnt. Seit 1993 haben die jeweiligen Landesregierungen viele kleine Schritte unternommen, um den Weg in Richtung eines inklusiven Schulsystems zu bahnen. Die GEW hat in vielen Stellungnahmen betont, dass es ei-
ner strukturellen Veränderung des Bildungssystems bedarf, um gemeinsamen Unterricht zu verwirklichen.
Grundlegend dabei ist, dass Ressourcen für den gemeinsamen Unterricht nicht über individuelle Unterstützungsbedarfe sondern systembezogen jeder Schule zugewiesen werden und zur Verfügung stehen. Gemeinsam bilden dann Lehrkräfte, Pädagogische Fachkräfte, Sozialpädagogische Fachkräfte, Therapeut*innen, Pädagogische Mitarbeiter*innen und Krankenpfleger*innen ein multiprofessionelles Team und die Schule ist als fester Einsatzort für die Kolleg*innen gesetzt. Zusammenarbeit könnte sich kontinuierlich weiterentwickeln und würde nicht immer wieder durch veränderte Zahlen individueller Bedarfe gestört beziehungsweise unterbrochen. Durch die verlässliche Zugehörigkeit zu einem Kollegium wächst die Möglichkeit vertrauensvoller Kooperation. Dies steigert die Qualität und Attraktivität der Arbeit und leistet einen wertvollen Beitrag zu Arbeitszufriedenheit und Gesundheit der
Kolleg*innen.


Vorstandsteam

Landesfachgruppe Sonderpädagogik