Positionspapier: Aufrücken statt Versetzen am Ende des Schuljahres 2020/21
Die GEW bekräftigt ihre Position, aufgrund der aktuellen Situation an Niedersachsens Schulen auf ein Versetzen zu verzichten, stattdessen ein Aufrücken der Schüler*innen zu ermöglichen und gleichzeitig anlassbezogen Beratungsgespräche zwischen Lehrkräften und Erziehungsberechtigten sowie Schüler*innen durchzuführen.
Folgende Gründe sprechen dafür:
Die häusliche Situation der Schüler*innen ist zu unterschiedlich, dies wurde durch Corona noch verschärft. Zusätzlich zu sowieso schon vorhandenen Unterschieden kommen nun noch die Einschränkungen durch Corona hinzu: Bestehende Ungleichheiten – etwa bei der häuslichen Lernumgebung – werden verstärkt, weil der Präsenzunterricht nicht stattgefunden hat; harte Corona-Einschränkungen haben die Familien in unterschiedlichem Ausmaß getroffen. Das geht von konsekutiven Corona-Erkrankungen innerhalb einer Familie, die zu wochenlanger Quarantäne geführt haben, über die Häufigkeit, von einer Quarantänemaßnahme betroffen gewesen zu sein, obwohl alle gesund waren, bis hin zu der Frage, wie vorsichtig eine Familie aufgrund von Vorerkrankungen eines Familienmitglieds ist oder war. Dieser Einschränkungen trafen die Schüler*innen unverschuldet; die Konsequenzen müssen sie jedoch tragen.
Das bedeutet: Viele Kinder und Jugendliche müssen psychisch aufgefangen werden, wieder zu einem strukturierten Tagesablauf finden und zum Lernen motiviert werden. Die GEW hat zahlreiche Rückmeldungen aus dem Sek I-Bereich erhalten, aus denen hervorgeht, dass die Motivation gerade derjenigen Schüler*innen „im Keller“ ist, die besonders gestützt werden müssen. Denn viele dieser Gruppe haben blaue Briefe erhalten, weil ihre Versetzung gefährdet ist. Und genau bei dieser Gruppe haben in der Regel die häuslichen Umstände und die weggefallene Tagesstruktur eine Menge zum Leistungsverlust beigetragen. Also Rahmenbedingungen, für die die Schüler*innen nicht verantwortlich gemacht werden können, deren Konsequenzen sie aber nun mit einer Nichtversetzung und dem damit verbundenen Verlust des gewohnten Klassenverbandes tragen sollen. Es wäre sinnvoller, die Schüler*innen stattdessen mitzunehmen und ihre Motivation durch passende Lernangebote zu stärken, die weder Leistungsdruck noch Notenrelevanz in den Vordergrund stellen.
Stellen die Lehrkräfte nun beim Ankommen in Szenario A die Aufarbeitung der letzten Monate in den Mittelpunkt und wollen gleichzeitig keine Schüler*innen mit dem Sitzenbleiben bedrohen – ganz im Sinne des Ministers also – so fehlt am Ende des Schuljahres in vielen Fällen die verlässliche Basis für eine Notengebung, die zudem auch einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten könnte. Kurz: Ein Verzicht auf Leistungsnachweise und gleichzeitiges Umsetzen der Versetzungsverordnung sind nicht vereinbar.
Eine solches Sowohl-als-auch würde dem Eindruck der Pandemie-Gefälligkeitsbenotung Vorschub leisten, und dient weder den Schüler*innen, die dadurch zwar die Versetzungshürde überwinden können, aber im kommenden Schuljahr zu scheitern drohen, noch dem Erhalt einer – eh nur eingeschränkt gegebenen – Vergleichbarkeit der Noten.
Stattdessen plädiert die GEW für ehrliche Verfahren. Die Schüler*innen sollten dort abgeholt werden, wo sie stehen, und wieder an den schulischen Alltag und das gemeinsame Lernen gewöhnt werden. Da ist Zensurendruck fehl am Platz. Stattdessen sollten die Schüler*innen nur in den Fächern benotet werden, in denen eine Notengebung aufgrund des Unterrichts möglich ist. Für alle weiteren Fächer sollten wertschätzende und anerkennende Bemerkungen möglich sein, die die Noten ersetzen. Ein solche Praxis erfordert allerdings den generellen Verzicht auf ein Versetzen in den kommenden Schuljahrgang. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt die von der GEW begrüßten Entscheidung dar, in diesem Schuljahr auf die Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens zu verzichten.
Für die Lehrkräfte hätte dies zur Folge, dass sie sich in den kommenden Wochen voll und ganz der Beziehungsarbeit und dem Wiederankommen im Klassenraum nach über einem Jahr Ausnahmesituation widmen könnten, da Klassenarbeiten bzw. Ersatzleistungen gestrichen werden könnten.
Die Notenvergabe muss durch Beratungsgespräche mit den Schüler*innen und Erziehungsberechtigten sowie ggf. den Ausbilder*innen begleitet werden, in denen besprochen wird, wie der Lernstand und die Perspektive für das kommende Schuljahr ist. Auf Basis der Noten und Bemerkungen sowie der Beratung könnte dann ggf. die Entscheidung für die Beantragung des freiwilligen Zurücktretens getroffen werden. Damit wäre einem kindeswohlgefährdenden Notendruck entgegengewirkt und der Weg frei für eine konstruktive, offene und gewinnbringende Kooperation von Schule und Familie.
Stand 10. Juni 2021