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50 Jahre Gesamtschulen in Niedersachsen

Vom Schulversuch zur ersetzenden Schulform

Gesamtschulen gibt es in Niedersachsen seit 1971. Am 1. September nahmen die ersten sieben Integrierten Gesamtschulen (und die ersten zwei Kooperativen Gesamtschulen) mit dem 5. Schuljahrgang ihre Arbeit auf. Im Schuljahr 2020/2021 bestehen 97 öffentliche Integrierte Gesamtschulen (und 36 Kooperative Gesamtschulen). Nach der Grundschule wechseln heute etwa 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf die integrierte Variante (IGS).

Die zu Beginn des Schuljahres 1971/72 startenden IGS in Braunschweig, Fürstenau, Garbsen, Hannover, Hildesheim, Langenhagen und Wolfsburg verdanken ihre Gründung der Initiative „von unten“. Eltern und Lehrkräfte, unterstützt von der GEW, nutzten ab 1969 das sich im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1968 öffnende Reformfenster, bildeten Planungsgruppen und erwirkten Beschlüsse der kommunalen Schulträger zur Beantragung von Schulversuchen. Genehmigt wurden diese durch den damaligen bis 1970 amtierenden Kultusminister Richard Langeheine (CDU). Zu den Erfolgen der GEW beim Start der Schulen gehört, dass eine einheitliche, also nicht vom Lehramt abhängige Regelstundenzahl der Gesamtschullehrkräfte festgesetzt wurde. Dagegen gibt es bis heute keine Anzeichen für die Realisierung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.

Stürmischer Aufbruch

Der jahrgangsweise Aufbau der ersten sieben IGS führte zu einem steten Zustrom innovationsbereiter, überwiegend junger Lehrerinnen und Lehrer, die sich der Leitlinie „Herstellung von Chancengleichheit“ besonders verpflichtet fühlten. Zum Erreichen dieses Ziels gab das Kultusministerium 1972 den erforderlichen pädagogischen Spielraum. Durch den Erlass „Von bisherigen Schulvorschriften abweichende Regelungen“ wurden die IGS gleichsam „erlassfrei“. So gab es bei der Bewertung der Schülerleistungen keine Bindung an das System der Ziffernzensuren; statt herkömmlicher Ziffernzeugnisse konnten Lernzustandsberichte ausgegeben werden. In teilweise wöchentlich anberaumten Gesamtkonferenzen wurde leidenschaftlich, manchmal turbulent um den richtigen Weg gerungen. Gelegentlich bildeten sich unter den Mitgliedern der Gesamtkonferenz „Fraktionen“, die auch außerschulisch zusammen kamen, um bestimmte Absprachen für die nächste Gesamtkonferenz zu treffen. Das galt insbesondere für die Besetzung der höherwertigen Ämter – Schulleitung, Jahrgangsleitung, Fachbereichsleitung – die im Wege einer „Besonderen Ordnung“ mit zeitlicher Begrenzung erfolgen konnte. Dabei wurde die Dauer der Übertragung damals von den einzelnen Schulen selbst festgelegt. Markenzeichen der IGS wurde ferner das Institut der Kollegialen Schulleitung, in die auch Lehrkräfte der Schule ohne höherwertiges Amt berufen werden können. Unproblematisch war von Anfang an, dass die IGS von den Bestimmungen der Versetzungsordnung befreit wurde und damit gleichsam eine „versetzungsfreie Zone“ unter den Schulformen bildete. Dass das bis heute gilt und wohl auch im politischen Raum nicht mehr hinterfragt wird, ist erstaunlich, weil selbst in Pandemie-Zeiten hartleibig am „Sitzenbleiben“ und „Abschulen“ festgehalten wird. Hingewiesen werden soll darauf, dass auch Spielraum für die Gestaltung des Ganztagsbereiches bestand. Die Ära der „erlassfreien“ Selbständigkeit der niedersächsischen IGS wurde 1979 durch den Erlass „Übergangsregelung der Unterrichtsorganisation im Sekundarbereich I der IGS“ beendet, der rigide in den Kernbereich der Gesamtschularbeit eingriff. Mit ihm wurde unter anderem eine äußere Differenzierung mit der Bildung von Fachleistungskursen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch vorgeschrieben. Die Möglichkeit der Vergabe höherwertiger Ämter mit zeitlicher Begrenzung blieb zwar erhalten, der Übertragungszeitraum wurde aber durch schulgesetzliche Bestimmungen schrittweise gestutzt. Inzwischen ist er mit zwei Jahren eigentlich nur noch eine erweiterte Probezeit, nach deren Ablauf eine Verleihung auf Lebenszeit erfolgen kann. Dass nach diesen Änderungen und der späteren „Entmachtung“ der Gesamtkonferenz zugunsten des Schulvorstands und der Stärkung der Stellung der Schulleiterinnen und Schulleiter der stürmische Aufbruch des „alten Adels“ (spöttische Bezeichnung der jüngeren Gesamtschul-Generation für die ersten Sieben) bei der Errichtung neuer IGS nicht in gleicher Weise erhalten blieb, kann nicht weiter verwundern.

Gesetzliche Regelungen seit 1973

Ihre gesetzliche Grundlage als Schulversuche erhielten die Gesamtschulen 1973 durch Novellierung des damals noch gültigen „Schulverwaltungsgesetzes“. Bereits ein Jahr später wurden sie in der Urfassung des Niedersächsischen Schulgesetzes als reguläre Schulform der Sekundarbereiche I und II genannt. Die weitere schulrechtliche Entwicklung der IGS verlief in Abhängigkeit von der jeweiligen Landtagsmehrheit allerdings nicht linear und bruchlos. 1980 gab es ein dreijähriges Errichtungsverbot für IGS; außerdem wurden sie „schulische Angebote“. Den Status „Regelschulform“ erhielten sie erst 1993 zurück. „Neue Gesamtschulen dürfen nicht errichtet werden“ war dann die schulgesetzliche Ansage von 2003 bis 2008; danach durften zwar wieder Gesamtschulen als Angebotsschulen entstehen, die Genehmigungsvoraussetzungen wurden aber verschärft. Ein wichtiges Jahr für die IGS wurde 2013, als die 2009 gegen den Widerstand der Schulen beschlossene Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur wieder rückgängig gemacht wurde. (Zwei Jahre später geschah das auch für die Gymnasien). Eine Art Schlussstein setzte der Gesetzgeber im Jahre 2015, mit dem die Gesamtschulen den Status einer ersetzenden Schulform erhielten. Schulträger von Gesamtschulen sind nicht mehr verpflichtet, Hauptschulen, Realschulen und – beim Vorliegen gewisser Voraussetzungen – Gymnasien zu führen. Anzeichen im politischen Raum, dass an dieser Situation nach der nächsten Landtagswahl wieder etwas geändert werden wird, sind nicht ersichtlich. Offenbar hat sich die auch in anderen Bundesländern zu beobachtende Entwicklung zu einer Art „Zweisäuligkeit“ des Schulwesens – Gymnasien und Gesamtschulen – als friedensstiftend erwiesen. Eine Kleinigkeit sollte sich der Landtag bei einer aus anderen Gründen erfolgenden Novellierung des Schulgesetzes aber noch vornehmen: Die Wiederverwendung des Begriffs „Integrierte Gesamtschule“. So heißen nämlich – auch im amtlichen Sprachgebrauch – die eingangs genannten 97 Schulen. Aber diesen Namen kennt das Schulgesetz nicht mehr. Das gilt nicht für die „Kooperative Gesamtschule“. Solche Schulen dürfen seit 2011 zwar nicht mehr errichtet werden; für die davor gegründeten KGS gewährt das Schulgesetz aber einen umfassenden Bestandsschutz, der auch Weiterentwicklungen zulässt.

Dieter Galas