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Abitur 2021: Schule ist mehr als „Stoffvermittlung“

Ein Plädoyer für Qualität statt Quantität im Abitur

Bildungsabschlüsse bedingen Lebenschancen - soweit kann der öffentlichen Debatte um Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit gefolgt werden, die durch die coronabedingten Unterrichtsausfälle in Schieflage geraten ist. Im Wortsinne merkwürdig ist dabei jedoch, dass vermehrt von „Unterrichtsstoff“ gesprochen wird, der aufgeholt werden müsse. Das antiquierte Bildungsverständnis hinter diesem Begriff, das im Sinne des Nürnberger Trichters davon ausgeht, man müsse eine gewisse Menge „Stoff“ in Schülerhirne pressen, hat einen konkreten Auslöser: Im Sinne einer unterstellten notwendigen Vergleichbarkeit von Abschlüssen werden „zentrale Prüfungen“ angesetzt, die möglichst bundesweit gleich und mit OECD-Standards darüber hinaus international die zukünftige Wirtschaftsleistung der Humanressource ablesbar machen sollen. Dem gegenüber steht der - in Fachcurricula formulierte und von Lehrkräften gelebte - Anspruch der Menschenbildung: Die pädagogisch begleitete Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler*innen, die Förderung ihrer Kreativität, ihres Intellekts und ihres gesellschaftlichen Handelns. All das brüsk unterbrochen in der Zeit der Prüfungsvorbereitung, in der je nach verbleibender Zeit im Sinne eines „teaching tot he test“ zentral Vorgegebenes aufgeholt wird, als wäre es relevanter als der Bildungsanspruch der unterrichtenden Lehrkraft. Es bleibt ein Durchhetzen durch Themen, statt tiefergehende Auseinandersetzung mit Inhalten – wissenschaftspropädeutisch ist das nicht. Dieser Effekt wird durch die Unterrichtsausfälle in der Qualifikationsphase für das kommende Abitur verstärkt. Es liegt auf der Hand, dass hier entsprechend angepasst werden muss, um die Qualität des Abiturs zu sichern. Ändern könnte man daran nur etwas auf KMK-Ebene. Denn obwohl Bildung Ländersache ist, muss das Abitur gegenseitig anerkannt werden, damit bei einem Bundeslandwechsel für die Absolvent*innen kein Nachteil entsteht. Doch die KMK-Ebene ist träge, Corona zeigt auch die Probleme des Föderalismus mit dem Brennglas. Auf Hinwirken des niedersächsischen Kultusministeriums ist immerhin für 2021 ermöglicht worden, dass beim Zentralabitur die Bundesländer weiterhin Änderungen an den Aufgaben vornehmen können, die sie aus dem IQB-Aufgabenpool entnehmen. Eigentlich wäre das ab 2021 nicht mehr möglich gewesen, was weitere Probleme nach sich gezogen hätte – man denke an die Erfahrungen mit dem Mathematik-Abitur. Das „Stoff“-Problem aber ist dadurch noch nicht gelöst, auch wenn darüber hinaus bereits Anpassungen in den fachbezogenen Hinweisen erfolgt sind. Es wird weiterhin eine Aufholjagd bleiben, die immer unverhältnismäßiger werden wird, je mehr regionales Infektionsgeschehen ungleiche Bedingungen für den Präsenzunterricht schafft. Stattdessen hätte die ausgebildete Fachlehrkraft mit Blick auf die Lerngruppe und ihre Lernvoraussetzungen die Quantität des Stoffes anpassen und zu einem qualitativen und fachlich anspruchsvollen Abschluss führen können. Hätte, könnte, ohne Zentralabitur. Vielleicht ist jetzt die Zeit, die Grundsatzfrage zu stellen.