Bildung für nachhaltige Entwicklung
BNE in Schulen Wirksamkeit verleihen
Die Nationale Plattform, die 2017 den Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) verabschiedet hat, will initiativ werden, um mit neuen Impulsen BNE 2030 in der formalen Bildung größere Wirksamkeit zu geben und ihre Umsetzung zu beschleunigen.
Das Programm BNE 2030 der UNESCO verfolgt einen radikal transformativen Bildungsansatz. Es fordert schulische und außerschulische Lerngelegenheiten für die aktive Beteiligung der Lernenden an der Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele. Alle Lernenden sollen Kenntnisse, Selbstwirksamkeit und Gestaltungs-kompetenzen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung bis 2030 erwerben.
Dieser Auftrag ist in den Schulen noch nicht angekommen. Das zeigt das Nationale Monitoring BNE am Institut Futur der Freien Universität Berlin in einem 2022 veröffentlichten Kurzbericht auf Basis einer Befragung von 3.000 jungen Menschen und Lehrkräften. Danach sehen sich weniger als ein Viertel der jungen Menschen durch formale Bildung in die Lage versetzt, „effektiv zur Lösung von Nachhaltigkeitsproblemen beitragen zu können“. Die Befragung ergibt auch, dass nicht einmal die unterrichtliche Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen in allen Fächern hinreichend verankert ist.
In dem Impulspapier „Unser weiterer Weg zur Umsetzung von BNE 2030“ hat die Nationale Plattform als oberstes Lenkungsgremium für die deutsche Umsetzung des UNESCO-Programms im September 2023 ihre Überlegungen öffentlich gemacht, wie der Nationale Aktionsplan (NAP) im Sinne von BNE 2030 wirkungsvoll umgesetzt und weitergeführt werden soll. Die Nationale Plattform (NP) will offensichtlich mit dem Impulspapier auf die große Lücke reagieren, die derzeit zwischen Programmatik und Umsetzung von BNE 2030 klafft.
Unzureichende Impulse
Das Impulspapier besteht aus einer wortreichen Zustimmung zu BNE. Ihm fehlt aber die kritische Auseinandersetzung mit der Frage, warum so wenige Schulen BNE wirkungsvoll umsetzen. Auf diese Weise klammert die Nationale Plattform in ihren Überlegungen aus, dass Schule und Schulsystem selbst radikal transformiert werden müssen, damit BNE als transformative Bildung wirksam werden kann. Es fehlt letztlich der Mut, die überkommene Schulpraxis in den bestehenden Strukturen mit ihren negativen Auswirkungen kritisch in den Blick zu nehmen und davon ausgehend konsequente Veränderungsprozesse zu reflektieren und zu fordern.
Strukturelle Lähmung
Es greift zu kurz, die Erklärungen für die geringe Wirkung von BNE in Defiziten der Lehreraus- und -fortbildung und in den Curricula zu suchen. Die Organisation „Teachers for Future“ legt den Finger in die Wunde, wenn sie feststellt, dass das Wissen rund um die Klimakrise sich zwar vergrößert, aber durch die Art, wie in Schulen gelernt wird, dieses Wissen kaum Auswirkungen auf das Handeln der Lernenden hat. Für die Art, wie in Schulen gelernt wird, sind die selektiven Schulstrukturen besonders wirkungsmächtig und stellen den heimlichen Lehrplan. Das bestehende Schulsystem ist strukturell an der Bildung von Leistungshomogenität in Lerngruppen und Schulformen ausgerichtet. Es verlangt zu ihrer Herstellung Maßnahmen der Leistungsselektion, die nachweislich auch immer sozial selektiv wirken.
In diesem Kontext wird schulisches Lernen eher selten als individueller und kollaborativer Aneignungsprozess von neuen wichtigen Fähigkeiten, Kenntnissen und selbstwirksamen Erfahrungen erlebt. Eingepauktes Wissen wird abgeprüft, benotet und schnell wieder vergessen. Auch wichtige Inhalte werden allzu oft zu Prüfungsgegenständen deklassiert. Lernende werden zu Konkurrent*innen im Wettbewerb um Noten.
Anpassung an Standards
Unter dem Einfluss der empirischen Forschung ist das selektive Schulsystem auf standardorientierte Lern- und Unterrichtsentwicklung zur Sicherung von Qualität und Herstellung formaler Vergleichbarkeit ausgerichtet worden. Nachweislich ist es aber nicht gelungen, das System gerechter und leistungsfähiger zu machen, wie Studien des IQB nachdrücklich bestätigen. Stattdessen verschlechtern sich die Bedingungen für Lernende und Lehrende. Mit der Standardisierung werden beide Gruppen in den Schraubstock eines an ökonomischer Effizienz ausgerichteten selektiven und segregierten Systems eingespannt und angepasst (Thomas Höhne 2006, 2020). Mit dem Paradigma des Standardisierens und Vermessens verliert die Schule die ganzheitliche Sicht auf die Lernenden, wie Prof. Hans Brügelmann in seiner Buchveröffentlichung „Vermessene Schule – Standardisierte Schüler“ (2015) kritisiert.
Dysfunktionale Wirkungen
Das bestehende Schulsystem mit seinen Strukturen, Funktionen und Prozessen verhält sich dysfunktional zu den Nachhaltigkeitszielen. Es versagt darin, allen Lernenden das Recht auf Grundbildung zu sichern. 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. Bundesweit haben 6,2 Prozent der Jugendlichen 2023 die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Ein Großteil von ihnen kommt aus den Förderschulen, wo rund 70 Prozent keinen Abschluss erwerben. Damit wird das Schulsystem selbst zum Produzenten von Armut, die die Agenda 2030 ja gerade überwinden will.
Das Nachhaltigkeitsziel SDG 10 der Agenda 2030 verlangt, dass soziale Ungleichheiten abgebaut werden. Das Markenzeichen des deutschen Schulsystems ist jedoch die immer wieder in nationalen und internationalen Studien festgestellte enge Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Das System trägt zur Verfestigung von Bildungsungleichheit und zur grundgesetzwidrigen Vererbung von Bildungsarmut und Bildungsprivilegien bei.
Das selektive, segregierte Schulsystem ist in seinen Strukturen, Funktionen und Prozessen dysfunktional zu den Nachhaltigkeitszielen und damit auch zu BNE.
Inklusive Bildung – Basis für BNE
Unter den 17 Nachhaltigkeitszielen der von den Vereinten Nationen beschlossenen Nachhaltigkeitsagenda kommt inklusiver, auf Chancengleichheit beruhender, hochwertiger Bildung als SDG 4 eine Schlüsselrolle zu. Die UNESCO bezeichnet inklusive Bildung als „Grundpfeiler einer transformativen Bildung, weswegen wir uns verpflichten, gegen alle Formen von Exklusion und Marginalisierung, Disparitäten und Ungleichheiten bei Zugang, Teilhabe und Lernergebnissen anzugehen.“
Der inklusiven Bildung werden relevante Teilziele zugeordnet. Sie soll beispielsweise sicherstellen, dass durch BNE alle Menschen bis 2030 zu zukunftsfähigem Handeln befähigt werden. Damit wird inklusive Bildung sowohl Grundlage und Ausgangpunkt für BNE als auch Voraussetzung für die Umsetzung und Realisierung aller Nachhaltigkeitsziele. BNE ist untrennbar an inklusive Bildung gebunden.
Bildungspolitische Verweigerung
Die deutsche Bildungspolitik vermittelt dieses Verständnis nicht. Die Bildungspolitik hat BNE nicht nur von inklusiver Bildung entkoppelt. Sie hat inklusive Bildung als SDG 4 unkenntlich gemacht, indem sie es meistens nur verkürzt als „hochwertige Bildung“ bezeichnet.
Warum? Die Begründung liegt auf der Hand. Die Bildungspolitik weigert sich beharrlich, inklusive Bildung umzusetzen. Sie hat inklusive Bildung mit der Verabschiedung der UN-BRK lediglich an das selektive, segregierte Schulsystem angepasst, statt es zu einem inklusiven, auf Chancengleichheit beruhenden und hochwertigen System zu transformieren.
Die Transformationsverpflichtung ist zwar erst mit der UN-BRK völkerrechtlich kodifiziert worden, be- steht aber als Empfehlung an die Staatengemeinschaft schon in der Salamanca Resolution. „Schulen sollen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen und anderen Fähigkeiten aufnehmen“, heißt es in der 1994 auf der UNESCO Weltkonferenz verabschiedeten Resolution. Um dies zu realisieren, „bedarf es einer Pädagogik der besonderen Bedürfnisse, die davon ausgeht, dass menschliche Unterschiede normal sind, dass das Lernen daher an das Kind angepasst werden muss und sich nicht umgekehrt das Kind nach vorbestimmten Annahmen über das Tempo und die Art des Lernprozesses richten soll“. Das bestehende Schulsystem ist in seinen Strukturen, Funktionen und Prozessen nicht inklusiv – es ist inklusionswidrig. Um BNE ihre volle Wirksamkeit zu geben, müssen die bestehenden Strukturen den Erfordernissen von inklusiver Bildung angepasst werden und BNE muss in inklusiven Strukturen verankert werden.
Impulse weiterdenken!
Auch die NP stellt den Zusammenhang zwischen inklusiver Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht her. Es ist an der Zeit, dass Befürworter*innen von Bildung für nachhaltige Entwicklung sich mit Unterstützer*innen von inklusiver Bildung auf der wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Ebene treffen, um gemeinsam Impulse für eine inklusive Bildung für nachhaltige Entwicklung (IBNE) zu reflektieren und Schritte für den notwendigen Transformationsprozess der Schulen und des Schulsystems einzufordern. Es muss verhindert werden, dass BNE auch nur an die Strukturen der Ungleichheit angepasst wird wie die inklusive Bildung.